Ich scheine schon abzuheben, bevor ich überhaupt ange-kommen bin. Ist es wirklich das, was mich glücklich machen kann? Erfolg? Geld? Ruhm? Ich kann es zumindest probieren.
Das Schauspielern zum Beispiel hat mir doch in der Grundschule schon immer so viel Spaß gemacht! Das würde mir gefallen: vor der Kamera in die verschiedensten Rollen zu schlüpfen. Angst, Wut, Leidenschaft und Trauer verkörpern. Endlich offen sein dürfen – wenn auch nur für eine Rolle. In unserer heutigen Gesellschaft ist es doch verpönt, starke Emotionen zu leben. Gerade im Beruf. Im Büro zum Beispiel sollte man sich immer beherrschen. Ein allzu ausgelassenes Auftreten könnte den Eindruck erwecken, man hätte nicht ge-nug zu tun. Und auch wenn es einem schlecht geht, sollte man damit besser hinter dem Berg halten. Angst, Trauer, Wut gelten doch eher als Schwächen, und die sind der beruflichen Laufbahn nicht gerade dienlich.
Dagegen das öffentliche zur Schau stellen der gesamten Bandbreite menschlicher Emotionen: ein verführerischer Ge-danke! Vielleicht ist der Beruf des Schauspielers heutzutage sogar die einzige Möglichkeit, alle Gefühle ungehemmt aus-leben zu können, ohne sich schämen zu müssen. Und zu-gleich hilft es, sich in seine Mitmenschen hinein zu versetzen.
Ich denke, ich bin dazu in der Lage. Einen Versuch wäre es wert. Nach kurzem Überlegen fällt mir auf: Noch nie in mei-nem Leben hatte ich Todesangst verspürt. Okay, natürlich konnte ich mich da glücklich schätzen.
Aber mal angenommen, ich müsste das jetzt und auf der Stelle authentisch rüber bringen. Dafür wäre eine Ahnung die-ses Gefühls sicher von Vorteil gewesen. So überlegte ich mir einfach eine entsprechende Szene. Eine Fluchtszene. Es geht dabei natürlich um Leben und Tod.
Also: Ich werde verfolgt. Ganz plötzlich. Mehr eine Ahnung als Gewissheit. Doch ich spüre es ganz deutlich. Die Gefahr, die sich nähert. Ich gehe schneller. Drehe mich immer wieder nervös um und schaue ängstlich nach hinten. Dann fange ich an zu laufen. Meine Gesichtsmuskeln verkrampfen sich und meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich mache mich kampf-bereit. Und schließlich fange ich doch an zu rennen. Ich renne um mein Leben. Immer wieder drehe ich mich um und schaue dabei panisch. Ich renne und renne, beginne zu weinen und kann einfach nicht mehr stehen bleiben . . . Ganz neuartige, bisher noch nie verspürte Emotionen steigen in mir auf. Meine Brust schnürt sich zusammen und doch setzt sich eine noch nie verspürte Kraft und Ausdauer frei.
Da reißt mich urplötzlich jemand am Arm. Ich werde herum geschleudert und fast zu Boden gerissen. Verwirrt schaue ich mich um. Da steht ein junger Polizist, der sich sichtlich über seine Beute freut. »Na, mein wertes Fräulein, wohin so eilig? Habe ich Sie nicht eben aus dem Kaufhaus kommen sehen? Zeigen sie mir mal Ihre Tasche!«
Tasche? Hat er sie nicht mehr alle? Ich schwebe in Lebens-gefahr!
Noch völlig aus der Puste stammele ich irgendetwas von Verfolgung, Leben und Tod und einer Schauspielerkarriere.
»Kommen Sie fürs Erste bitte mit – aufs Revier. Ich möch-te mich gerne ein wenig mit Ihnen unterhalten.«
Wie peinlich ist das denn?! Ich, eine Diebin? Sollte das schon das Ende meiner Selbstfindung sein? Ich finde doch wohl kaum auf einem Polizeirevier zu mir, oder? Zum Glück bin ich nicht mehr minderjährig. Sonst hätten die bestimmt meine Eltern angerufen: »Wir haben Ihre Tochter bei uns. Kommen Sie bitte schnellstmöglich vorbei.«
Meine Mutter mit verheulten Augen – mein Vater mit bösem Blick. Oder andersherum. Das wäre mir in dem Moment dann auch egal gewesen.
Realität! Bitte aussteigen!
Mir bleibt keine Wahl. Ich folge dem Polizisten aufs Revier. Dort angekommen muss ich erst einmal im Gang Platz neh men. Während dieser kurzen Wartezeit gehen bestimmt drei Junkies, zwei Schlägerkids und eine Prostituierte an mir vor-bei. Wenig später sitze ich im Polizeibüro, wo der zuständige Beamte versucht, den vermeintlichen Diebstahl mit versuchter Flucht aufzuklären.
»Ich kann Sie durchaus verstehen. Das muss ja doch et-was seltsam auf Sie gewirkt haben, dass ich geflohen bin. Ich bin Schauspielschülerin und wir üben zur Zeit ›Angst und Flucht‹. Wissen Sie, ich wollte eigentlich nur meine Hausauf-gaben machen. Es tut mir sehr leid, dass ich Ihre Zeit gestoh-len habe! Aber was anderes mit Sicherheit nicht!« Ich komme mir zwar sehr dumm, aber durchaus clever vor. Mein selbst-bewusstes Lächeln scheint Wirkung zu zeigen. Er untersucht meine Tasche und schaut mich dabei skeptisch an: »Und wieso haben Sie das nicht gleich gesagt? Wo kämen wir denn hin, wenn jeder Schauspieler diverse Szenen mitten in der Stadt übt? Was machen Sie denn morgen? Eine Überfallsze-ne? Oder dann doch mal einen richtigen Diebstahl?« Er wirkt nun genervt und ein wenig gelangweilt von meinen ›Spiel-chen‹.
Okay, ich kann den armen Polizisten ja sogar verstehen. Und er hat Recht. So wie heute habe ich mich selbst noch nie erlebt. Das ist eine ganz neue Seite an mir. Dass ich mich so in eine Rolle versetzen könnte, dass ich gar nicht mitbekom-me, wo ich bin und was ich tue . . . also, ein wenig stolz bin ich schon auf mich!
Warum? Na ja, ich bin aus mir rausgegangen. Ich habe heu-te meine Schamgrenze überwunden und mir keine Gedanken gemacht, was die anderen Passanten denken könnten. Und das, oh ja, das ist eine Genugtuung! Der Polizist ist noch immer leicht irritiert, dennoch hat er ein Einsehen: »Gut, Sie dürfen gehen. Anscheinend haben Sie ja wirklich nichts mit-gehen lassen. Es passiert nun mal nicht so oft, dass junge Frauen heulend und fluchtartig durch die Stadt rennen. Sollen wir Sie noch nach Hause fahren?«
Wieso ist er denn jetzt auf einmal so hilfsbereit? Ich über-lege kurz: »Nach Hause? Nein danke, ich wohne nicht weit von hier.«
Fast ein wenig enttäuscht verlasse ich das Polizeigebäude und stehe zum ersten Mal an diesem Tag etwas planlos in der Abenddämmerung herum.
Nach Hause! Dieses Wort muss ich vorerst aus meinem Wortschatz streichen. Dafür benutze ich jetzt neue Begriffe wie Freiheit, Ungebundenheit und unbeschreibliche Ausgegli-chenheit. Ich muss schmunzeln. Die erste Szene meines ganz persönlichen Films ist im Kasten. Und die Polizei hat mir das Schauspiel abgekauft. Mann, ich muss wirklich sehr authen-tisch gewesen sein.
Während ich noch vor der Polizeistation stehe und ein wenig sparsam in den Abendhimmel schaue, erklingt hinter mir wie aus dem Nichts eine Stimme: »Hi! Ich bin Louisa! Wie Lou und Isa! Also drei Namen zum Preis von einem. Du bist ja ’ne krasse Braut! Hab eben da drin alles mitbekommen.«
»Hä«, entgegne ich verwirrt und drehe mich um. »Wer bist du denn? Und was hast DU auf dem Revier gemacht?«
Ich mustere sie von oben bis unten. Und zugegebenerma-ßen klingt meine Frage ein wenig herablassend. Mein Gegen-über scheint das jedoch gar nicht zu bemerken oder aber stört sich nicht daran.
»Och, bin mit ’n paar Gramm erwischt worden. Kann pas-sieren. Selber schuld!«
Aha! Ich will gar nicht wissen, von welchem Zeug die Mrs. ›Drei-Namen-Zum-Preis-Von-Einem‹ ein paar Gramm zuviel dabei hatte. Mit Drogen hab ich absolut nichts am Hut. Auch wenn ich mir im Moment so vorkomme, als hätte ich nicht nur was dabei, sondern sogar intus. Denn gerade halte ich mich selber für etwas überdreht. Zumindest bis eben.
Denn diese Lou oder Isa oder Louisa – ach, ich werde schon ganz blöd bei den vielen Namen –, auf jeden Fall hat diese Frau den Mega-Knall. Steht hier vor mir und erzählt ei-ner völlig Fremden, dass sie grad wegen irgendeiner offen-sichtlich illegalen Substanz bei den Bullen war und scheint auch noch stolz drauf zu sein. Das relativiert mein Selbst-empfinden doch dramatisch, so dass ich mir auf einmal wie-der verdammt normal vorkomme. So normal, dass ganz leich-te Zweifel an meinem Abenteuer aufzukommen drohen. Ist es falsch, was ich hier mache? . . . Hey! Wer denkt das gerade?! Ich? Ich, die doch eben noch zu 100 Prozent von sich und ihrem Handeln überzeugt war? Ist doch nicht illegal, was ich hier treibe. Schließlich hab ich nichts mit Drogen oder ande-rem Zeug zu tun. Somit verbanne ich alle Ängste und Gesich-ter, die mich gerade im Geiste vorwurfsvoll ansahen, bis in die hintersten Winkel meines Bewusstseins. Ich befinde mich auf einer Reise – einer Reise zu mir. Und wenn diese Reise so lange dauert, dass Band 1, 2 und 3 meines Tagebuches ge-füllt werden müssen, dann ist es eben so! Ich würde nicht eher zurückkehren, bis ich mein Ziel erreicht hätte.
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