Weil er über Nacht bleiben durfte, begannen sie ein Lager zu bauen und als sie ihre Decken- und Matratzenhöhle fertiggestellt hatten, legten sie sich nebeneinander hinein und schauten sich Butchs Füße an. Im Gegensatz zu denen unseres kleinen Wirts, ragten seine bereits ein ganzes Stück zum Eingang hinaus.
Allmorgendlich, wenn sich Michael die Zähne putzte, betrachteten wir ihn im Spiegel und bemerkten, dass er mit seinen sechs Jahren noch sehr zierlich und klein geraten war, während wir seine Gedanken als rege, fast altklug erlebten.
Im Gegensatz zu ihm waren seinem Freund bereits jetzt schon deutlich die männlichen Muskelstrukturen anzusehen. Sein Denkvermögen dagegen schien eher weniger stark ausgeprägt zu sein.
Die beiden Kinder waren ein völlig ungleiches Paar, ergänzten sich auf diese Weise jedoch prächtig und hingen aneinander wie liebende Brüder.
Wir hatten entschieden Butch nach dem Nachbarshund zu benennen, nach einer muskelbepackten Bulldogge mit beeindruckender Stimme, weil wir fanden, dass beide gleichermaßen Respekt einflößend auf Fremde wirkten. Der Köter, wie auch das Kind. Wir mussten Michael unsere Idee nur lang genug zuflüstern, ehe er diese als die eigene betrachtete. So wurde aus Peter Brannigan fortan Butch. Alle empfanden wir diesen Namen als originell und selbst Sarah gewöhnte sich bald daran.
Michaels Mutter nahm sich rührend dieses fremden Jungen an. Während sich seine Eltern bereits früh morgens zur Arbeit aufmachten, überließen sie Butch bis in die späten Abendstunden seinem Schicksal.
Einzig mit einem geschmierten Brot gerüstet, machte er sich dann erneut auf den Weg, um während der Ferien bei Michael und Sarah den Rest des Tages zu verbringen, denn hier fühlte er sich offensichtlich behütet und wohl.
Sarah mochte diesen einsamen Jungen sehr, begrüßte ihn immer an der Haustür mit einer Umarmung und führte ihn die Treppen nach oben, um ihn im Badezimmer erst einmal zu waschen und um ihm liebevoll über das Haar streichen, bevor sie ihn wieder aus dem Raum entließ.
„Warum sagen wir eigentlich immer so wenig?“
Uns überraschte der Klang von Michaels Stimme doch ein wenig, nachdem die beiden Kinder über längere Zeit, wie gewohnt, nicht miteinander gesprochen hatten. Neugierig auf Butchs Antwort lehnten wir uns zurück und warteten.
„Brauchen wir nicht“, sagte dieser nur knapp.
„Wieso nicht? Magst Du mir nichts sagen?“, entgegnete ihm Michael.
„Nö, ist ja nicht so, weil ich nicht will. Aber du weißt eh immer, was ich denke. Und ich weiß es von dir, was du denkst.“ Er klemmte die Arme unter den Kopf und sah zur herabhängenden Stoffdecke nach oben. Erneut schwiegen die Kinder, doch wir verspürten deutlich, wie sich in Michael das Bedürfnis regte, sich seinem Freund mitzuteilen. Lang mussten wir warten, bis die Worte letztlich doch aus ihm hervorsprudelten.
„Der blöde Drache kommt manchmal jede Nacht in meinen Traum.“
„Was für ein Drache?“
„So einer mit sieben Köpfen. Und da ist noch ein Engel mit einem glänzenden Schwert und Menschen, die im Dreck liegen.“
Butch schwieg, hörte weiter zu, setzte sich dann aber ruckartig auf, um Michael in seine kräftigen Arme zu ziehen, weil sich die Stimme seines Freundes vor Aufregung plötzlich überschlug.
Immer wieder begann er von vorn, weinte dabei und mit jedem Mal erzählte er detaillierter von den Bildern, die ihn nachts quälten. Er wiederholte sich so oft, bis seine Tränen im wortlosen Trost von Butchs Umarmung versiegten und er entkräftet darin versank.
***
Am nächsten Morgen erwartete Sarah die beiden Kinder bereits in der Küche. Durch Michaels Augen betrachteten wir sie etwas genauer, dabei bemerkten wir, dass sie merklich schmächtiger war, als noch einige Wochen zuvor. Bislang hatte sie, trotz ihrer enthaltsamen Lebensweise glücklich und froh gewirkt, heute jedoch mutete sie eher verhärmt und verbittert an.
Nach dem Frühstück machten sie sich auf zum See. Für gewöhnlich zeigte sich Michael nicht in der Badehose, deshalb behielt er auch heute sein T-Shirt an. Butch hingegen präsentierte sich gern und zeigte vor allem in späteren Jahren, was er körperlich zu bieten hatte.
Einige Kinder der Nachbarschaft waren vor ihnen angekommen, auch Julie Baker, die zu glauben schien besser zu sein, als alle anderen.
Michael hasste dieses Mädchen und er strafte sie in seiner Vorstellung häufig für ihr Verhalten, dafür was und wie sie war. Gleich darauf schämte er sich für seine Fantasien.
Die beiden Jungen kauerten sich gut versteckt hinter einem Busch zusammen, von wo aus sie die beste Sicht auf Julie und ihre Freundinnen hatten.
„Ich würde der gern mal die Haare abrasieren“, sagte Butch ohne erkennbare Gefühlsregung. Doch in seinem Blick lag unmissverständlich dasselbe Verlangen, das jedes Mal während der kleinen Untersuchungsspielchen an all den Katzen zugegen war. All jene Kadaver lagen inzwischen in Michaels Garten verscharrt unter der Erde, Julie zählte leider nicht dazu.
Sie kicherten beide, weil ihnen der Gedanke einer Julie mit Glatzkopf zu komisch erschien.
Den restlichen Tag verbrachten sie am See, weil sie diesen Ort einfach liebten. Hier stellten sie sich die verrücktesten Bestrafungen für die dumme Gans vor und erweiterten nebenbei noch Michaels Ameisenfarm um ein paar besonders schöne Exemplare.
Wochen später wurde Julie Baker vermisst. Natürlich suchten wir in Michael nach einem verräterischen Gedanken, dass er etwas mit der Entführung des Mädchens zu tun haben könnte, schon allein deswegen, weil Gerüchten zufolge, die abrasierten Haare des Kindes, sauber zu einem Zopf geflochten aufgefunden worden waren. Von Julie aber fehlte jede Spur. Doch Michael schien nichts damit zu tun zu haben. Leider waren wir damals noch nicht imstande unseren kleinen Wirt dazu zu bringen, seinen besten Freund nach dem Verschwinden des Mädchens zu fragen. Womöglich hätte uns Butch zu unserer großen Freude mit einer unterhaltsamen Geschichte überrascht.
Nach dem Abendessen las ihnen Sarah wieder einmal aus der Bibel vor und danach spielten sie Mensch-ärger-dich-nicht, bevor Butch nach Hause ging.
Sie machten häufig Brettspiele zusammen, weil es einen Fernseher oder ein Radio in diesem Haus nicht gab.
„Das ist Teufelswerkzeug, um die Seelen der Menschen zu vergiften!“ War Sarahs Begründung. Dafür aber erzählte sie viele Geschichten, Märchen und Fabeln und manchmal berichtete sie auch von Michaels Vater, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.
Als wir Michael an diesem Abend ins Bett begleiteten, bemerkten wir seine Unruhe, die insgeheim und während des ganzen Tages in ihm aufgekeimt war. Wir fühlten das Dröhnen in seinem Kopf und es fiel uns ebenso schwer, wie Michael, uns fallen zu lassen und in seinem Kissen zu ruhen.
Es kam des Öfteren vor, dass er derartig aufgewühlt war. Einen besonderen Grund dafür musste es nicht geben.
Umso leichter war es dann, wenn wir uns erst einmal durch seine Emotionen hindurchgekämpft hatten, an die Oberfläche seines Bewusstseins zu treten.
In den voran gegangenen Jahren hatte er unsere Stimmen durchaus gehört, wenn auch lediglich als Rauschen oder Zischen und dies auch nur, wenn wir uns mit großer Kraftanstrengung darum bemühten, uns ihm kenntlich zu machen. Später dann schien er offener zu werden, erlaubte den Lauten als leises Flüstern zu ihm vorzudringen. Tatsächlich erkannte er zunehmend unsere kleinen Botschaften und wir wussten, dass wir auf dem richtigen Weg waren.
Das erste Mal, als er uns sehr zaghaft antwortete, hätte sich unsere Brust vor Stolz geschwellt, wären wir körperlich einer solchen habhaft gewesen.
Wie aus der Ferne vernahm er unsere Rufe nach seinem Namen fast so, als würden sich unsere Stimmen den Weg durch einen dichten Nebel bahnen. Zumindest hatte er uns dies in späteren Jahren so beschrieben.
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