Julie zögerte nun und stutzte.
Marc ärgerte sich sofort über seine Indiskretion und fügte schnell hinzu: „Es tut mir leid, das geht mich natürlich nichts an. Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung, für meine unpassende Neugierde.“
Julie konnte sich nicht daran erinnern, schon jemals mit einem derart gesitteten, und höflichen Mann, der solch tadellose Marinieren an den Tag legte, verkehrt zu haben. Er erstaunte sie stets aufs Neue. Nun war sie sich seiner Aufrichtigkeit sicher. Julie setzte sich träge auf und stützte sich mit ihren Armen erneut auf dem Bett ab. Müde blickte sie zu Marc hinüber, dem blonden Engel. Doch nun wirkte er wie ein echter Mensch, ein richtiger Mann. Und er sah sehr attraktiv aus. Zum ersten Mal in ihrem Dasein verspürte sie in diesem Raum Lust auf körperliche Intimität mit jemandem. Nämlich mit ihm, dem schönen und wohlerzogenen Marc Skilliard. Wo er wohl herkam und aufgewachsen war? Sie würde ihn später danach fragen. Nun wollte sie ihm den Gefallen tun, und seine direkte Frage ehrlich beantworten.
„Um ehrlich zu sein, nein. Zunächst habe ich hier nicht nur als Kellnerin gearbeitet. Genau genommen arbeitet hier niemand nur als Kellnerin. Bei mir hat Gil vor einiger Zeit aber eine Ausnahme gemacht, weil ich mit dem … Weil ich damit einfach nicht zurechtgekommen bin. Ich kann das nicht mehr … ich meine …“
Unwillkürlich kullerte Julie eine Träne über die Wange. Mist, das wollte sie überhaupt nicht. Sie wollte nicht das arme Mädchen sein, dass aus Verzweiflung zu weinen begann. Noch dazu gegenüber einem derart attraktiven Mann. Aber irgendwie konnte sie sich nun nicht mehr zurückhalten und es folgten weitere Tränen. Hastig und etwas verärgert wischte Julie sie rasch aus ihrem Gesicht. Es tat einfach so gut, dass ihr jemand zuhörte, dass er ihr zuhörte, ohne sie sofort zu unterbrechen und dagegen zu reden. Auch jetzt blieb er einfach dort in seinem Sessel sitzen und wartete. Julie errang ihre Fassung zurück und sprach weiter.
„Jedenfalls ging es so weit, dass sich Herren immer öfter über mich und meine teilnahmslose Art dabei beschwert hatten, und der Boss mich feuern wollte. Irgendwie hat er mich dann aber doch hierbehalten und mich von da an nur mehr noch als Kellnerin eingesetzt. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Doch nicht jeder der Gäste weiß das, und deshalb versuchen solche widerwärtigen Schurken, wie vorhin, nach wie vor bei mir zu landen. Es ekelt mich einfach so an.“
Julie beendete ihre Rede und sie war sehr erleichtert, es endlich einmal ausgesprochen zu haben. Sie war derart in Rage geraten, dass sie Marc schon ein Weilchen nicht mehr angesehen hatte. Langsam und vorsichtig blickte sie nun zu ihm hinüber, um zu sehen, wie er darauf reagierte.
Marc hatte wohl auf ihre Aufmerksamkeit gewartet.
„Es tut mir ehrlich leid, wie es Ihnen hier wohl ergangen war und immer noch ergeht“, sagte er ehrlich mitfühlend.
Nun verstand er auch, warum die schroffe Kellnerin Julie zuvor so angefahren war. Vermutlich waren die anderen Dirnen neidisch auf sie, dass sie sich vor der grauenhaften Prostitution hatte drücken können. Marc war ehrlich gesagt sehr froh darüber, dass sie das nicht mehr tun musste. Und der Gedanke daran, dass sie es aber jemals getan hatte, löste ein Grauen in ihm aus. Aber nicht ihr gegenüber, sondern denen gegenüber, die ihr das angetan hatten.
„Warum gehen Sie dann nicht einfach? Oh, bitte entschuldigen Sie die ungeschickte Frage. Ich wollte sagen, was hat sie all die Jahre hier festgehalten? Gibt es wirklich keine anderen Möglichkeiten?“
Nachdem er die Frage gestellt hatte, ahnte er, wie dämlich und unpassend sie vermutlich war.
Julie schüttelte nun sarkastisch lachend den Kopf.
„Glauben Sie mir, wenn es die gäbe, hätte ich sie gewählt. Aber ein Mädchen, wie ich, hat keine andere Wahl. Vermutlich bin ich dazu geboren worden, um einmal hier zu verenden.“
Marc erhob sich nun unwillkürlich, denn dies war der größte Schwachsinn, den er jemals gehört hatte und ganz bestimmt nicht hören wollte. Auch wenn es für Julie vermutlich tatsächlich wie die Wahrheit erschien.
„Nein, auf keinen Fall“, protestierte Marc erregt. „Eine wunderschöne, kluge Frau wie Sie, kann keines Falls für das hier geboren sein.“
Marc deutete durch den Raum.
„Ich weiß, dass viel mehr in Ihnen steckt und es vieles gäbe, das sie tun könnten, und gewiss mit Bravour meistern würden.“
Marc war ehrlich überzeugt davon, was er da sagte. Doch Julie schien ihn augenblicklich für verrückt zu halten.
„Sie wissen nicht, was Sie da reden.“
Nun erhob sich auch Julie und begann, aufregt und verärgert im Zimmer herum zu gehen.
„Wenn jemand von da kommt, wo ich herkomme, dann gibt es nichts anderes, was man tun könnte. Wir können uns glücklich schätzen, hier arbeiten zu dürfen. Gil ermöglicht uns ein Leben. Eines, das wir nicht in der Gosse verbringen müssen.“
Julie war nun wirklich wütend geworden, aber nicht direkt auf Marc. Sie war mehr zornig darüber, wie hilflos sie sich fühlte und wie ausgeliefert in ihrer Situation. Vielleicht hatte Marc ja sogar recht. Vielleicht hätte sie sich zu gegebener Zeit mehr Mühe geben sollen, einen anderen Weg für sich selbst zu finden. Doch irgendwie war sie hier einfach hängen geblieben und hatte nie den Mut aufgebracht, ihr Leben zu verändern. Wenn sie auch nach wie vor keine Ahnung hatte, wie sie das hätte tun sollen.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
„Ja?“, fragte Julie immer noch mit zittriger, erregter Stimme.
„Die Stunde ist um. Der Chef hat gesagt, ich soll dich zurück in den Schankraum holen. Außer der Herr möchte noch eine Stunde dranhängen. Dann muss er aber gleich bezahlen“, schallte eine Männerstimme durch die geschlossene Türe.
Julie blickte zu Marc hinüber. Der griff suchend in seine Taschen, fand wohl aber nicht das passende Geld und schüttelte resignierend den Kopf. Julie seufzte.
„Ist gut, ich komme.“
Sie ging bereits Richtung Türe. Marc schloss schnell zu ihr auf und hielt sie sanft am Arm fest. Da war es wieder, dieses magische Prickeln. War das möglich?
„Es tut mir sehr leid, dass wir jetzt nicht weitersprechen können. Ich verspreche Ihnen aber, ich komme wieder. Bitte passen Sie in der Zwischenzeit gut auf sich auf“, sagte Marc sehr ernst und mit fürsorglicher, warmer Stimme.
Am liebsten wäre sie ihm nun um den Hals gefallen. Sie wusste aber genau, dass zwischen ihren Träumen und der Wirklichkeit Welten lagen. Also lächelte sie ihn nur vage und dankbar an, und verließ dann das Zimmer.
Marc blickte ihr noch hinterher, bis sie in dem dunklen Gang verschwand.
Der Mann stand immer noch draußen neben der offenen Tür und forderte Marc auf: „Bitte verlassen Sie jetzt auch dieses Zimmer. Und beehren Sie uns bald wieder.“
Marc ging zurück zu dem Sessel und schnappte sich seine Aktentasche. Dann verließ er rasch den Raum.
Unten im großen Schankraum angekommen, blickte er sich einmal nach Julie um, konnte sie aber nirgends sehen. Er ging zurück in das Separee, wo er zuvor mit Mr. Kellington Geschäfte gemacht hatte, und fand nun auch die anderen Gentlemen wieder vor. Einige saßen an dem recht großen Tisch und tranken, während der Boss, Mr. Kellington gerade genüsslich eine Zigarre rauchte. Marc musste aufgrund des schrecklichen Qualms beinahe husten, als er näherkam. Er verabscheute Rauchen.
„Mr. Kellington, ich bedanke mich bei Ihnen für das heutige Treffen, und möchte mich nun verabschieden. Es ist spät geworden und ich muss morgen früh raus.“
Er streckte Mr. Kellington die Hand entgegen. Mr. Kellington stand aber lachend auf und umarmte Marc freundschaftlich.
„Und ich hoffe, Sie hatten Ihren Spaß“, sagte er und zwinkerte Marc zu.
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