Dazu notierte sich N im Jahr 1882:
Das geistige Nomadentum ist die Gabe der Objektivität oder die Gabe überall Augenweide zu finden [was hat das miteinander zu schaffen? ästhetizistische „Augenweide“ und „Objektivität“?]. Jeder Mensch, jedes Ding ist mein Fund, mein Eigentum: die Liebe, die ihn für Alles beseelt, glättet seine Stirn. 9.667
Dabei übernahm N den ersten Satz Emersons ohne sich anschließend an dessen Inhalt zu halten! Das Folgende verkürzte er, bezog es direkt auf sich selbst durch die zweimalige Veränderung des neutralen „ein“ auf „mein“ und verzichtete auf alles, was auf die Anerkennung einer gleichberechtigten Existenz „der Anderen“ hätte schließen lassen, - aber in Emersons Aussage relativierend vorhanden war!
Noch innerhalb des Essay-Kapitels „Geschichte“ hatte Emerson geschrieben:
Der griechische Standpunkt ist die Ära des verkörperten Seins, der Vervollkommnung der Sinne, - des geistigen Wesens, das sich wunderbar schön entfaltet in strenger Übereinstimmung mit dem Körper, von dem es umgeben ist. Hier existierten jene [illusorisch überidealisierten Vorstellungen von] menschlichen Formen, die dem Bildhauer das Modell gewährten zu einem Herkules [Herakles, Sohn des Zeus mit Alkmene, der verführten Frau des Königs Amphitryon!], Phöbus [der Sonnengott Apollo, ebenfalls ein Sohn des Zeus allerdings mit der verführten Artemis/Diana, Göttin der Jagd, des Mondes und der Geburt] und Jupiter [Zeus, Gott des Himmels und oberster aller griechischen Götter. Sonderbarerweise nennt Emerson in dieser Idealisierung der Griechen lauter männliche Figuren, an Frauenbildnisse dachte Emerson, der Frauen ganz allgemein eine nachrangige Wichtigkeit gewährte, weniger. Für N entsprach dies ganz dem, was ihm in seiner, das Griechentum verherrlichenden „humanistischen“ Schulung, eingetrichtert wurde]; nicht den Formen gleich, die wir im Überfluss in den [minderwert „jetztzeitigen“!] Straßen moderner Städte finden und bei denen die Gesichtszüge gewöhnlich völlig unklar und verwischt sind, sondern deren [enorm idealisierten] Züge untadelhaft, in scharfer Begrenzung gehalten und vollkommen symmetrisch waren [dabei gab es, in Plastiken überliefert, auch außerordentlich „hässliche“ Menschen in dieser Illusion von überedeltem Griechentum!], wo die Augenhöhlen so gebildet sind, dass es dem Auge unmöglich sein würde, mit schielendem Blicke nach dieser oder jener Seite hinzusehen und zu diesem Zweck der Kopf sich ganz wenden muss. EE.18
Emerson offenbarte hier einen romantisch überhöhten Glauben an die Erscheinung von Vollkommenheit bei den Griechen als ob sie alle die schönsten Statuen hätten abgeben können und es angeblich liebten, das Vollkommene, Schöne, Bewundernswerte, Vorbildliche darzustellen , um es dem auch ihnen sehr wohl bekannten Unvollkommenen gegenüberzustellen . Und N schluckte dies und übernahm es als seine eigene Meinung.
Auch in diesem Absatz Emersons - hier aber besonders! - fällt auf, wie ein griechisches Ideal , das bis in heutige Tage über einige Statuen, meist als römische Kopien, im Bewusstsein geblieben ist, direkt und unmittelbar unserer Realität gegenüberstellt wird und diese Realität dabei schlecht abschneidet, in entsprechend negativ bewertenden Worten, wie „gewöhnlich“, „unklar“, „verwischt“ - wie von N unterstrichen! - gegenüber „untadelhaft“ und „symmetrisch“, also stilisiert und überhöht, gefeiert und gleichsam für anbetungswürdig befunden. Auf abendländischen, einige Jahrhunderte alten Altarbildern sehen die abgebildeten Menschen auch zumeist nicht aus wie die „auf der Straße“.
Zudem hier angeführten Absatz notierte sich N, ausgehend vom letzten Satz - bezeichnenderweise übrigens! - Anfang 1882 in sein Notizbuch, das etliche Emerson-Sprüche aufzunehmen hatte - und wieder in bedenklicher Weise unmittelbar auf seine Person bezogen:
Es muss meinem Auge unmöglich sein, mit schielenden Blicken [hier-]hin und dahin zu sehen: sondern immer muss ich den ganzen Kopf mitdrehen - so ist es vornehm. 9.667
Das war eine Notiz von geradezu idiotischem „Gehalt“! Und geschmäcklerisch bis zum Letzten. Mit dieser unkritischen Nachäfferei hatte er die Grenze zur Dummheit eigentlich überschritten. Dieses Schlaglicht eitler Egozentrik und selbstgefälligem Vornehmtun ist - bei einem, der 1882 ja längst Philosoph und sogar „Überphilosoph“ sein wollte! - kaum zu überbieten. N offenbarte damit nichts als dümmliche Dünkelei!
Dieser Auszug aus einem Emerson-Text ist für N auf zweierlei Weise typisch: Erst einmal bezog er von dem Gelesenen wieder einmal das, was ihm besonders gefiel, streng auf sich selber und zweitens war er dabei so sehr mit sich und seinem „Vornehm-Tun“ - dem er je älter je mehr eine hohe Bedeutung einräumte! - beschäftigt und ausgefüllt , dass er Emersons gesamte, doch sehr bedeutsame „Einleitung“ zu der ihn ansprechenden Aussage wieder einmal „unbeachtet“ ließ. Warum ?
Dieser Auszug von letztlich ja nur einer relativ beliebigen Aussage/Idee/Ansicht Emersons - er lieferte N viele dieser Art! - spricht über N, in den schon wieder eng auf ihn selbst ausgerichteten Interessenbereich hinein, Bände! N erwies sich da wieder einmal als gar nicht in der Lage, bei der Betrachtung „der Welt“ von sich als deren einzigem Mittelpunkt abzusehen . Nebenbei tat er so, als ob zwischen a) seiner verklärenden „Griechen-Überschätzung“, wie sie sich besonders 1871, in der Zeit von Ns „Geburt der Tragödie“ (von dieser später mehr!) bemerkbar machte, mitsamt der von seiner Seite dazugehörigen, ausgeprägten Missachtung aller Gegenwärtigkeit und b) gegenüber der unmittelbaren Gegenüberstellung der beiden! - seither nicht zweieinhalb Jahrtausende auch geistiger Geschichte vergangen waren! - Diese Ausblendung „geistiger Evolution“ stammt von N selber. Emerson hat sie Alles in Allem nicht vorgesehen. N aber behauptete im Zuge dessen, was ihn gefühlsmäßig bewegte, die Griechenverehrung, -Tradition und -Kultur als Vorbild - und deshalb fortzusetzen : Als eine absolut „erlaubte“, gebildete, „ vornehme “ Weltanschauung, die ihm zur Zeit seiner Notiz, Anfang 1882, zu einer nicht weiter erwähnenswerten und zu hinterfragenden Selbstverständlichkeit geworden war! Weil er mit all seinen Vorstellungen, Ideen und Absichten immer am schon einmal Dagewesenen klebte. Es fehlte ihm die Phantasie, etwas Neues zu denken, - was er mit seiner Neigung zu Maßlosigkeiten übertünchte.
Was Emerson relativ distanziert einem hochidealisierten Griechentum zuschrieb, beanspruchte N in seiner Übernahme für sich und meinte - entsprechend seinen Illusionen ! - sich damit zu einem Vertreter griechischer Tugend, Schönheit und Vornehmheit machen zu können. Mit irgendwelchem Bezug zur Realität hat auch das bei N wiederum nichts zu tun. Der etwas gar nicht wirklich vorhanden Gewesenes beschreibende Emersontext geht aber, nach dem, was N davon - auf sich bezogen! - zu „seinem Eigentum“ machen wollte, folgendermaßen weiter:
Der Charakter jener Zeit ist ein schlichter und einfacher aber dennoch großartiger. Besondere Anerkennung zollte man den persönlichen Eigenschaften, dem Mut, dem Anstande, der Selbstbeherrschung, der Gerechtigkeit, der Kraft, der Behendigkeit, einer lauten Stimme und dem kräftigen Bau des Körpers [und was es gegebenenfalls noch mehr sein könnte an illusionären Herrlichkeitsklischees! Diese Sätze sind von N am Rande angestrichen!]. Man kannte weder Luxus noch Eleganz. Eine nur dünne Bevölkerung und die Bedürfnisse, die jeder Mensch hat, bringen es mit sich, dass Jeder sein eigener Knecht, Koch, Fleischer und Kriegsmann wird [womit Emerson die nicht unerhebliche Sklavenhalterei der Griechen und deren aristokratische Verächtlichkeit gegenüber körperlicher Tätigkeit unter den Teppich kehrte!] und die Gewohnheit, sich mit dem Nötigsten selbst zu versehen, macht den Körper zu außerordentlichen [ungewöhnlichen, seltenen, bewundernswürdigen!] Leistungen fähig. Solcher Art ist Agamemnon [Bruder des Königs von Sparta, Menelaos, der verheiratet war mit Helena, die mit Paris durchbrannte nach Troja, was bekannter weise den von Homer beschriebenen und die griechische Kultur in erheblichem Maße bestimmenden „trojanischen Krieg“ auslöste!] und der Diomed des Homer [der Thrakerkönig Diomedes, ein mutiger Teilnehmer am trojanischen Krieg] und nicht sehr verschieden davon ist das Bild, welches Xenophon [426-401 v. C., ein aus Athen stammender Schriftsteller, Geschichtsschreiber, Philosoph und Schüler des Philosophen Sokrates, Heerführer und sogar Gutsherr, Bewunderer Spartas und Verächter der Demokratie] von sich selbst und seinen Landsleuten entwirft ….. EE.18
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