Wie geht es Dir jetzt? Habt ihr noch viel zu arbeiten? Bei uns steht nun das [für N erste Semester-]Examen in unmittelbarer Nähe und ich habe etwas Angst davor. - - Hast Du schon einmal Cicero privatim gelesen? Ich möchte es jetzt gern tun, habe aber überhaupt große Lust lateinische Klassiker zu lesen, aber wenn ich doch interessante und nicht zu schwere wüsste! ….. Bitte schicke mir jetzt einmal irgendein Thema zu einer deutschen Arbeit, am liebsten eine Rede oder Abhandlung [es war sein geliebtes Spiel des verpflichteten Produzierens und gegenseitigen Kritisierens, - aber auch des „Sich Produzierens “, denn auf diese Weise schuf er sich ein zwar recht kleines, gar sehr kleines, immerhin aber doch ein „ Publikum “:] Ich denke, in den freien Tagen nach den Examen wird schon etwas freie Zeit dazu sein und ich muss in so etwas in der Übung bleiben. Ich komme sonst zu sehr heraus. - Hier schicke ich dir auch ein Thema [von prinzipiell maßlosem Ausmaß, so, wie N es im „Rahmen“ von bis zum Äußersten getriebenen Grenzwerten liebte]: Über die göttliche und menschliche Freiheit . [Derlei prinzipiell gar nicht abschließend behandelbare Themen lagen N, sie reizten ihn und sind ein Zeichen dafür, wie heftig und mit welcher Wucht Emersons maßlose Tiraden bei ihm einschlagen und wirken mussten, als er sie im übernächsten Jahr zur Kenntnis bekam.]
Vielleicht findest Du auch hie und da ein Stündchen, wo Du darüber nachdenken und schreiben kannst. Es ist die Freiheit einer der wichtigsten Punkte. Wirf doch nur die Fragen auf. Was ist Freiheit? Wer ist frei? Was ist Willensfreiheit? usw. Nun lebe wohl, lieber Wilhelm und denke und schreibe recht oft an Deinen Fr. W. N. (62)
Philosophie im Ansatz, - als Beschäftigung mit Ernstem und Allerhöchstem, den geliebten Superlativen nah! Als Spiel und als Lebensaufgabe! Diese Neigung war früh vorhanden, gewissermaßen eine Manie und schon so etwas wie antrainiert, „Gewohnheit“: die „höchsten“, letzten und gültigsten Fragen endgültig zu „ klären “! Es sind übrigens genau diese „Fragen“, die N 1862, nach seiner Emerson-Lektüre, die ihn - in eineinhalb Jahren etwa - infizieren sollte, begierig aufgriff und in seinen „berühmten-berüchtigten“ Jugendaufsätzen über „Fatum, Willensfreiheit und Geschichte“ „behandeln“ sollte. Ein Teil davon bestand sicherlich aus einer „Flucht aus der Realität“, gerechtfertigt durch die Beschäftigung mit „höheren“, „wichtigeren“, superlativeren „Dingen“, als nur dem, was ihn am und im Alltäglichen quälte . Dazu gehörte auch, sich so überfrüht und intensiv um längst nicht anstehende Geburtstagswünsche zu kümmern. Er pflegte mit alledem jenseits der Realität eine Parallelwelt-Kultur, die ihm mit den Jahren immer wichtiger, ja zu seiner eigentlichen Welt geraten sollte.
Freund Wilhelm antwortete N noch im April 1859 folgendermaßen:
Lieber Fritz! Viel Dank für deinen Brief. - Wir haben jetzt tüchtig zu repetieren ….. Im nächsten Halbjahr werden wir statt Caesar ausgewählte Briefe von Cicero lesen, die, wie ich glaube, ziemlich leicht sind. Da du mir schreibst, dass du Lust hättest Sachen von Cicero zu lesen, so würde ich Dir raten, diese Briefe zu lesen, da die andren Werke Ciceros viel zu schwer zur Privatarbeit sein würden. -
In Hinsicht deines Geburtstagswunsches war ich allerdings etwas erstaunt, als ich las, worin derselbe bestand, glaube aber gewiss, dass deine Wahl eine gute sein wird, da das wenige was ich von Gaudy gelesen habe, mir sehr gefallen hat, dasselbe aber zu wenig ist, um ein Urteil fällen zu können. Ich danke Dir vielmals für das Thema [über „ die göttliche und menschliche Freiheit “!] zu dem deutschen Aufsatz, was du mir übersandt hast. Es ist nicht gerade schwer und man kann sehr viel darüber schreiben. In den Ferien werde ich mich damit beschäftigen, dasselbe auszuarbeiten. Dieselben [gemeint waren die Ferien] nehmen nächsten Freitag ihren Anfang. Wann beginnen die Eurigen? Ich freue mich unendlich auf unser nächstes längeres Zusammensein und ich hoffe dass Du in Naumburg bleiben wirst. Ich lasse hier ein sehr schwaches Zeugnis meiner Muße folgen, ich hoffe dass Du es mit Nachsicht aufnehmen wirst [ein waffenklirrendes, Blut, Mut und Leidenschaften aufwühlendes Heldengedicht in dreizehn Strophen mit jeweils vier langen Zeilen] über Gustav Adolphs Landung bei der Insel Ruden am Ausfluss der Peene ! Semper nostra amicitia manet Dein Freund W.Pinder.
Obgleich N am Sonntag, den 3. April zu Besuch in Naumburg war, schrieb er am Abend:
Liebe Mamma! Ich schreibe doch gleich ….. es war recht hübsch und ich muss sagen, dass ich diesen Spaziergang in Ruhe genossen habe. Ich bin auch ganz glücklich und langsam nach Pforta gekommen, habe aber doch die Tinte vergessen ….. [und nach einigen Bemerkungen, vor allem zu Musiknoten für Elisabeth, schrieb er:]
Schickt mir aber Folgendes: 1) Masius , deutsches Lesebuche ( für Examenarbeiten in dieser Woche sehr notwendig . 2) Eine tüchtige Tintenflasche. 3) Grammatik v. Siberti. Alles sehr notwendig und brauche es spätestens bis Dienstag!! Nun lebt recht wohl und schreibt und schickt und denkt recht viel an Euren Fritz. Nochmaligen großen Dank! Kuchen hat gut gemundet! Schickt mir ein Taschentuch, meine Krawatte, meine Stiefeln usw. ja mit! (63)
Obgleich er doch wissen musste, dass bereits am Dienstag Examensarbeiten anstanden, dachte er nicht daran, was er dazu benötigen würde. Seine Probleme lösten sich durch Bedienung durch Andere, was besonders in ständiger Wiederholung doch auf eine erhebliche Unselbständigkeit in Bezug auf seine Lebensbewältigung in praktischen Dingen schließen lässt, - so, wie sie bei autistisch veranlagten Menschen häufig festzustellen ist. Dank der ständigen Hilfestellung seitens Mutter und Schwester fiel diese Eigenheit Ns, da er ohnehin als Pascha behandelt wurde, nicht sonderlich auf, aber die gehäuften Zusende-Verlangen aus Pforta lassen, zusammen mit dem an Verhaltensregeln überreichen Brief seitens der Mutter, als N 1857 allein in Pobles bei den Großeltern weilte, in dieser Hinsicht ein bedenklich unselbständiges Bild Ns entstehen.
Die Ferienzeit im Frühjahr, die so sehr erwartet worden war, blieb hinsichtlich der Freundschaftspläne mit Wilhelm Pinder reichlich unerfüllt, denn die Mutter Franziska N war mit ihren beiden Kindern zu deren Großeltern nach Pobles gefahren. Zum Ende des April 1859 schrieb N deshalb an seinen Freund in Naumburg:
Lieber Wilhelm! Wir haben uns jetzt recht lange nicht gesprochen und gesehen. Die goldene Zeit der Ferien ist vorüber gegangen wie ein Traum; vorzüglich dauert es mich, dich noch nicht nach meiner Rückkehr von Pobles gesehen zu haben ….. Ich habe auch mehreres geschrieben. Erstens ein missglücktes Schauspiel, betitelt Prometheus [gut 7 Druckseiten lang krudes Zeug. BAW1.63fVon kaum jemand anderem sind wohl je „etwas sein sollende“ Versuche über Macht, Herrschaft, ungeheure Tat und so weiter veröffentlicht worden, wie von N, was anmutet wie die Knochensplitter von Heiligen in Monstranzen, zur Anbetung von so gut wie nichts und N fährt in scheinbarer Einsicht fort], angefüllt mit einer Unzahl falscher Begriffe über diesen Gegenstand, zweitens drei Gedichte eben darüber, die ich in einer dritten [Schrift] heruntergemacht habe. Diese dritte Schrift ist übrigens ein eigentümliches Ding ist aber noch nicht fertig [und wurde dies auch nicht, - hier aber wollte er damit doch „glänzen“], erst 6 enge Quartseiten lang und ist betitelt „ Fragezeichen und Notizen nebst einem allgemeinen Ausrufungszeichen über drei Gedichte , betitelt Prometheus [mit recht beliebig verteilten Rollen auf läppische Personen. BAW1.69fEs liegt unzweifelhaft ein gewisser atavistisch verehrender Heiligenkult und ein ungebändigter Anbetungswille darin, von N - unkritisch gegenüber dem, was es ist! - alles drucken zu müssen, was je seiner Feder entflossen ist! In dieser Hinsicht erscheint N tatsächlich als eine zeitlich verirrte Gestalt mit Heiligenschein auf der Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit, in welche er wegen seiner seelischen Rückständigkeit eigentlich nicht gehört!].
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