Am 8. Februar 1849 schrieb die Mutter an ihre Freundin:
Schwester Riekchen [eine Schwester des Vaters] aus Naumburg tröstete zwar, dass das Einschlafen der Glieder einmal ein Familienstück wäre und dass sie am Ende alle diesen organischen Fehler hätten und der gute selige Papa [also der Großvater Ns] auch daran gelitten und ein hohes Alter erreicht habe.
Am 8. März 1849 hieß es dann:
Ach, wir durchleben jetzt auch in Hinsicht unseres Häuslichen eine wahre Passionszeit ….. denn das Liebste auf der Welt menschlichen Ansichten nach hoffnungslos zu wissen, ist ein Gedanke, welcher Mark und Bein durchdringt und wo man das Bedürfnis einen lieben himmlischen Vater [jenseits aller Logik im guten Glauben an einen lieben, dies zulassenden Gott!] noch zu haben, dessen allein helfende Hand alles noch zum Besten wenden kann, erst recht schätzen und kennen lernt ….. Der Kranke hat zu wenig Kraft zum selbst essen, kann alle Sätze nur anfangen aber nicht vollenden ….. Der Hofrat Oppolzer diagnostiziert teilweise Gehirnerweichung …..
Am 4. April 1849 schrieb Ns Mutter:
Aber dieses Denken und nicht richtig ausdrücken [können] scheint ihm sehr peinlich und angreifend zu sein, er schüttelt auch allemal verdrießlich [den Kopf], wenn er nicht so gesprochen wie er gedacht. Nun bei Gott ist nichts unmöglich und deshalb empfehlen wir [in einer in jederlei Hinsicht offenbarten Hilflosigkeit] unsern guten Leidenden immer seinem Schutz und seiner gütigen Hilfe ….. Fritz und Lieschen sind jetzt viel auf dem Hof, wo sie auf dem daliegenden Holze herumklettern und sich wiegen …..
Am 30. April 1849 schrieb die Mutter über den Zustand ihres Mannes:
Leider kann ich immer noch nicht von sichtbarer Besserung schreiben, aber auch nicht von Verschlimmerung, sondern es geht jetzt egal fort, dass wir immer noch zu Gott hoffen, dass er ihm seine Körper- und Geisteskräfte wieder schenken soll …..
Am 20. Juli 1849 hieß es:
Ach Gott meine liebe Freundin mit so traurigem Herzen als diesmal habe ich noch nicht an Sie geschrieben, denn die Schwäche bei unserem armen Kranken, das viele Schlafen und dass er seit einigen Tagen fast kein Wort spricht, macht uns oft große Sorge und Jammer, doch wenn man ihn so in seinem Bett liegen sieht, wie in diesem Augenblick, wo ich schreibe, gibt man sich der besten Hoffnung hin.
In diesen Zeugnissen, die aktuell aus der Leidenszeit des Vaters stammen, weist nichts auf einen Treppensturz, aber viel auf Parallelen zu Ns, allerdings über weit längere Zeitspannen hin anhaltenden „Zustände“ zwischen Leben und Sterben hin, die ihrer wahren Ursache nach letztlich - außer der Tatsache, dass es so, wie er es ertragen musste, um ihn stand! - dem mangelhaften medizinischen Kenntnisstand gemäß! - ungeklärt geblieben sind und sich auch im nachherein nicht mehr auf eine bestimmte, rein äußerlich nur verursachte Art und Weise, werden erklären lassen. Es liegt ansonsten genug Fragwürdiges in Ns Lebensablauf vor. Die „Treppensturz“-Version war eine Erfindung der Schwester, die N in seine späteren Lebensbeschreibungen übernommen hat und von der Mutter erstmals in einem Brief aus dem Jahr 1890 Erwähnung fand: Nachdem ihr Sohn eindeutig dem verfallen war, was der „Normale“, der den „gedanklichen“ Vorgängen eines anderen nicht mehr folgen kann, mit „Wahnsinn“ bezeichnet; dabei aber gab es lange vor dem Ausbruch von Ns „Wahnsinns“ Vieles, was „normalerweise“ - als Folge logischer Abläufe in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit! - vollkommen unverständlich erscheinen musste!
Am 30. Juli 1849 starb der Vater nach elf Monate langem, sehr schmerzhaften Leiden, Erblinden und Dahinsiechen an Gehirnerweichung, wobei er ab März auch noch die Fähigkeit zu sprechen verlor, im Alter von nur knapp 36 Jahren. Seitdem blieb die Erziehung des noch nicht fünfjährigen N mit seiner Schwester im Wesentlichen seiner Mutter, der Großmutter und zwei Tanten väterlicherseits überlassen. Neben seiner zwei Jahre jüngeren Schwester wuchs er in einem reinen Frauenhaushalt ohne eine eigentliche „Respektsperson“ auf und war somit ständig der einzige „Mann“, der als solcher viel Einfluss auf die Schwester ausübte, die ihm aber, was das Lebenspraktische anbetraf, von ihrem Wesen her sehr bald überlegen war. In den Lebenszeugnissen der Schwester weist nichts darauf hin, dass sie mit irgendwelcher besonderen Intelligenz ausgestattet gewesen wäre. Sie verstand sich in ihrer auch recht ausgeprägten Selbstmittelpunktlichkeit nur wesentlich besser auf die Raffinessen und Winkelzüge „des Lebens“.
Über ihre Situation zu dieser Zeit schrieb die ihrer Umwelt gegenüber normalerweise überdurchschnittlich aufgeschlossene, aber eben sehr gottgläubige Mutter fast 30 Jahre später, am 3. März 1877 ihrem inzwischen längst zum Herrn Professor gewordenen, schwer an einem ungeklärten Kopfleiden laborierenden Sohn, der während einer beruflichen „Auszeit“ von einem Jahr in Sorrent, nahe Neapel weilte, unter anderem:
Jetzt hatten wir auch mehrere Wochen nach einander wunderschöne Vorlesungen, so auch gestern über „Kreuz und Kruzifix im christlichen Altertum“ von einem Superintendenten aus Wernigerode und vorher von Predigern Oberlehrern und Jenaischen Professoren und mussten recht bedauern, eben nicht in einer Universitätsstadt zu leben, wo man derartige Genüsse öfter hat, so allein vorzüglich, verdummt man, auf Deutsch gesagt, und ich preise deshalb Lieschens [sonst häufiges] Zusammensein mit Dir, wovon sie mir dann allemal etwas geben muss. Ich fühle aber dass meine Schuldbildung zu mangelhaft gewesen ist und unser Sinn mehr auf praktische und nützliche Arbeit gerichtet wurde [was N in dieser Form nie vermisst hatte!], woran es bei elf Kindern [bei ihr zu Hause in Pobles], wenig Mitteln und einen dienstbaren Geist [ein Hausmädchen nur] nicht fehlte, dann verheiratete ich mich mit 17¾ Jahren, wo ich noch was ich überhaupt noch weiß, von meinen so begabten lieben Herzensmann hörte und nach Jahr und Tag kam mein Fritzchen, dann mein Lieschen dann mein Josephchen, denen dann alle meine Zeit und Kraft gehörte [was letztlich dann ab 1889 in einer gut siebenjährigen Pflege des geistesgestörten Sohnes bis in ihre letzten Tage hinein seinen Abschluss fand].
Dazu kam dann diese Herz und Mark erschütternde elfmonatige Krankheit dieses meines heiß und innig geliebten Mannes, der überaus schmerzliche Verlust, ½ Jahr darauf der Verlust des köstlichen Kindchens [„Josephchen“] und meine Körperkraft war von all den Stürmen gebrochen , so dass ich nach dem Aufsteigen einer Treppe z.B. auf der obersten Stufe erst lange ruhen musste, um weiter gehen zu können und mein schönster Gedanke war damals, als 23-jährige, bald recht bald mit meinem Heißgeliebten [ihrem Mann - im Tod! - was schließlich nicht viel bringen würde!] vereinigt zu sein. Doch Gottes Wille war anders als der meine. Er schenkte mir wieder Kraft, mich dem Werke der Erziehung Eurer zu widmen und so war hauptsächlich mein Zweck darauf gerichtet, Euch alles das Lernen zu lassen, wo ich fühlte, was mir fehlte, indem ich den damaligen Ausspruch der Fr. Geheimrätin Lepsius so richtig fand, die eben auch dieses befolgte und darum die Privatstunden ihrer Kinder (zum Schrecken der Lehrer) selbst überwachte. Der liebe Gott legte seinen Segen darauf und so sind meine beiden jungen Seelen eigentlich meine kleinen Comentatoren [die etwas erklären, erläutern - „mit Sinn füllen“ dürfte hier gemeint sein!], die mir immer fehlen, wenn ich sie nicht bei mir habe und Herz und Geist verarmt und man möchte sich gern mit der ganzen Glut der Mutterliebe an sie ketten, denn was ist einer Mutter lieber , werter , in diesem armen Menschleben und unvollkommenen Erdenleben als ihre Kinder. 3.3.77
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