Das Wetter ist auch so schön, ich sehne mich weg von dieser traurigen Stube, habe auch gar keine Zeit hier zu liegen; Arbeiten von allen Seiten, die drängendsten. Ich habe gegenwärtig große Lust, die Hundstagferien mit Studien hinzubringen; ja ich sehne mich gewissermaßen darnach. Natürlich in Naumburg; Gustav ist wahrscheinlich allein zu Hause, da Krugs verreisen. Ich habe so viel noch zu tun, dass ich die Ferien dazu brauchen muss. Und alles bis Michaelis [29. September].
Das Interesse von Pforta haftet ausschließlich am Pfortaer Schulfest. Die Erwartungen sind die größten, auch für die Damen, da ungefähr 30 - 50 offiziell zu erwarten sind ….. Das Diner am ersten Tag ….. wird auf 200 - 400 Personen gerechnet. Im Turnsaal ist das Essen, vorher der Aktus [Festakt], an dem Stöckert [ein Schüler in Pforta] eine deutsche Rede halten wird, famos, sag ich euch. Ihr müsst auch dazu heraus. Bewerbt euch bald um Einladungen, es ist hohe Zeit. Am zweiten Tag ist Bergtag, darnach vielleicht Ball. Geld wird die Geschichte kosten, auch den Alumnen. Aber es wird sehr lustig, wofern alles gut abläuft und man sich überhaupt amüsieren will. Ungelegen ist mirs nur, weil’s mir noch mehr Zeit zum Arbeiten wegnimmt. Nun lebt allesamt recht wohl! Schreib mir recht bald, liebe Mamma, auch meine letzten Zeilen harren noch auf eine Antwort. Adieu! Fritz. (356)
Er drehte sich, wie immer wieder und zumeist, weitgehend um sich selbst, griff ganz selten nur mal über sich hinaus. Die Briefe zeigen, verglichen mit Briefen anderer, eine beengte Geschlossenheit, einen eng gezogenen Horizont um ihn selbst, in den selten etwas zu dringen vermochte und auftauchte, was neben ihm und unabhängig von ihm existierte.
Ende Mai oder Anfang Juni 1863 schrieb N aus Pforta wieder an die Mutter in Naumburg:
Hier übersende ich dir recht schmutzige Wäsche, teilweise noch von meiner Krankheit her, außerdem die versprochenen Noten, dazu etwas, was ihr der Tante mitschicken möget „ein Albumblatt“ wenig aber mit Liebe, wie auf allen Albumblättern. Etwas Neues habe ich nicht erlebt, heute habe ich schon sehr viel gearbeitet, das Wetter ist schön, Sonnabend denke ich euch wieder zu besuchen. Heute Nachmittag werde ich zu Herrn Prediger Kletschke gehen und alles ausrichten. Wenn du mir meine Kiste wieder schickst, liebe Mama, kannst du mir vielleicht einmal Kirschen mitschicken, ich habe noch keine einzige dies Jahr gegessen [es hatte sich scheinbar noch nicht bis zu ihm hin herumgesprochen, dass die Reifezeit der Kirschen im Juli liegt!]. Ihr habt mir ja lange, sehr lange nichts geschickt. Auf die Ferien [die noch gut 5 Wochen hin waren] freue ich mich mopsartig, eigentlich wie jemals kaum. Macht mir nur die Stube recht hübsch zurecht, so dass sie nicht mehr so riecht und es recht frisch drin ist. Mein Tageslauf wird etwa folgender sein: Früh circa 4 - 5, stehe ich auf, arbeite etwas, trinke um 6 mit euch dann Kaffee, arbeite dann wieder bis gegen neun, spiele dann mit Gustav den einen Tag bei Krugs, den andern bei uns vierhändig [auf dem Klavier], gehen dann zusammen baden: zu Mittag bin ich wieder da und den Nachmittag bin ich zu eurer Disposition, wofern ihr mich nicht jeden Tag in Gesellschaft schleppen wollt. Indessen zusammen spazieren gehen, bei rechter Glut, darauf freue ich mich. Nun lebt recht wohl! Übermorgen hoffentlich auf Wiedersehen! Euer Fritz. (363)
Das waren die Pläne. Dazu gab es genauere Notizen „Für die Ferien“:
Nibelungenlied [ein hochmittelalterliches „Heldenepos“ in etwa 2.400 Strophen aus der Zeit um 1200 n. C., - wiederentdeckt in verschiedenen, unterschiedlich alten Handschriften im 18. Jahrhundert, die eine mit dem „Ideal“ der vasallenorienten „Nibelungentreue“ verbundene, aus Neid, Meineid, Betrug, Verrat und Mordgelüsten sich entwickelnde Vernichtungs- und Untergangsorgie ohne Sieger - das zum verhängnisvoll vorbildlichen „deutschen Nationalepos“ geraten sollte]. Die heidnischen und christlichen Anschauungen scharf hervorzuheben, ebenso die ethischen Ideen. Die Charaktere sind im Gegensatz zu den homerischen [aus dem zehnjährigen Kampf um Troja und den abermals zehnjährigen Irrfahrten des Odysseus] zu betrachten. Der ästhetische Standpunkt des Liedes bei der Darstellung des Schrecklichen und des Schönen. Zu lesen mit der Lachmannschen Ausgabe [Karl Konrad Friedrich Wilhelm Lachmann, 1793-1851, war ein deutscher germanistischer Mediävist, Altphilologe und vorbildlich kritischer Herausgeber von historischen Texten]; zu beobachten das Ältere und das Neuere. Am besten frühmorgens zu lesen im Freien. Aber mit genauen Auszügen.
Das liest sich, als wären es Regieanweisungen für den „arbeitenden“ und sich dabei in Szene setzenden N! - Danach ging es N, mehr schulisch ausgerichtet um den römischen Dichter, Satiriker und stoisch orientierten Philosophen etruskischer Abstammung Aulus Persius Flaccus, ein römischer Dichter, 34-62 n. C. und um den gut eine Generation jüngeren Satirendichter Decimus Junius Juvenalis: „Vielleicht am besten von 9-12 zu lesen, um nach der Nibelungenlektüre eine scharfe ‚Abwechslung zu haben.“ - Danach folgen Bemerkungen zum Ferien-Umgang mit dem Neuen Testament: „Jesus als Volksredner zu betrachten, dazu die Evangelien durchzulesen. Er [Jesus] errät die Gedanken. Die Gleichnisrede Matth.13und ihr Zweck“ usw.: „Zu lesen in Gorenzen vornehmlich mit Gerlachs Übersetzung ….. Früh wohl am Besten. Dann dem Onkel vorzulegen.“ Danach folgt dann, nach einer Unterbrechung von weit mehr als einem Jahr als eine Rück- oder Wiederkehr eine Notiz zu:
Emerson . Eine Skizze des Buches für meine Freunde. Seine Betrachtungsweise amerikanisch. „das Gute bleibt, das Böse vergeht.“ Über Reichtum. Schönheit. Kurze Auszüge aus allen Essays. Über Philosophie im Leben. Vielleicht in Sangerhausen [dem Wohnort des Vormunds von N, von Naumburg aus 50 km nordwestlich an Südrand des Harzes gelegen] zu schreiben, morgens. Mit Muße und Sorgsamkeit.
„Mit Muße und Sorgsamkeit“ betrachtet ergeben sich zu diesen wenigen Zeilen etliche Fragen: Was meinte N mit „eine Skizze des Buches“? Sollte es ihm „für seine Freunde“ wirklich nur um ein Buch von Emerson gegangen sein? Dann hätte es sich dabei - den angegebenen Kapitel-Überschriften entsprechend! - eindeutig um Emersons „Führung des Lebens“ handeln sollen, - bilden die beiden Titel „Reichtum“ und „Schönheit“ doch darin das dritte und achte „Hauptstück“, was so viel wie Kapitel bedeutet. Aus diesen beiden Kapiteln hatte N jedoch vor gut Jahresfrist - außer dem typischen Emerson-Flair, dem auch sie unterliegen - nichts wörtlich oder auch nur so gut wie wörtlich in seine beiden Jugendaufsätze über „Fatum, Geschichte und Willensfreiheit“ übernommen! Andererseits notierte N: „Kurze Auszüge aus allen Essays“, obwohl in Emersons „Gedanken und Studien“ zur „Führung des Lebens“ - im Gegensatz zu dem Band „Essays“! - mit keinem Wort von „ Essays “ die Rede ist.
Was ist solchen Unstimmigkeiten zu entnehmen? Es gibt keinen Hinweis darauf, dass N anderweitig geplant gehabt hätte, die Freunde mit den tatsächlich „Essays“ genannten Kapiteln aus Emersons Büchern bekannt zu machen. Ns Wesen entsprach, dass er die ihm besonders viel bedeutenden „Essays“ und „Hauptstücke“ für sich behielt, - schon um sich nicht in die Karten blicken zu lassen. Dass er in seiner Notiz ausgerechnet zwei Kapitel-Überschriften anführte, die ihn nicht zu sonderlich viel Identifikations-Aufwand verleitet hatten, passte zu seiner Maskenspiel-Neigung, das für ihn Wesentliche letztlich doch für sich und im Verborgenen zu behalten.
Dennoch drängte ihn etwas, die Freunde mit seinem Lieblingsschriftsteller bekannt zu machen. Er suchte die Gelegenheit, sein nicht nur von Emerson übervolles Herz von diesem - und von sich selbst! - künden zu lassen. Dabei dachte er zuerst - in instinktivem Vermeiden von allzu Persönlichem! - an die ihn weniger tief berührenden Kapitel und sicherlich nicht nur aus der „Führung des Lebens“, darauf verweist die Absicht, „Kurze Auszüge aus allen Essays“ bringen zu wollen. Ihm ging es doch um das sehr Vieles umfassende und ihm sehr bedeutsame Thema der „Philosophie im Leben“! - und dies war in der Fülle gemeint, in der Ihn das „philosophisch Grundsätzliche für sein Leben“ - und das Leben überhaupt! - beschäftigte: Eingeschlossen seine erhobenen , seine alles in widerspruchsfreiem Zusammenklang erscheinen lassenden „Momente“, - aus deren extrem spezieller Erfahrung heraus allein ihm gegeben und möglich war, auf die Frage, ob beispielsweise „der Ruhm“ - die Besonderheit, nach der sich in ihm so sehr „herrscheramtliche“ Sehnsüchte regten! - „wirklich nur der köstlichste Bissen unserer [d.h. ganz speziell seiner !] Eigenliebe“ wäre, eine Antwort zu geben - ohne in dieser Antwort, als er sie denn - vieles von ihm verratend! - gab, zu erklären von wem er dabei berichtete, - er wählte dafür gern Heraklit! - redete aber von eignen Erfahrungen! - und schrieb dazu - aus welcher über sein persönliches Empfinden hinausreichenden Erfahrung und Erkenntnis heraus aber? - jedenfalls aus den Tiefen seiner eigenen Seele mit bewegenden und auch betroffen machenden Worten - 9 Jahre später, 1872, die schon einmal zitierten, aber in anderem Zusammenhang betrachteten, für ihn so überaus wichtigen Zeilen:
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