„Trägt er eine Waffe, Jayden?“, fragte dessen Freundin, die er seinerseits kurz zuvor „Lieke“ genannt hatte, in ihrer Landessprache vom Fahrersitz aus.
Freysing spürte, wie der Student ihn von hinten oben herum abklopfte. Er tat es nachlässig im Bewusstsein, dass die Metalldetektoren am Eingang des Casinos eine Waffe wohl bereits entdeckt hätten. Was er dabei nicht wusste, war, dass Freysings spezielle Kunststoffversion der Heckler & Koch P 30 V2 von solchen Detektoren gar nicht hätte erkannt werden können. Allerdings führte er die Pistole gegenwärtig ohnehin nicht mit sich; sie lag samt Halfter sicher verwahrt im Handschuhfach seines BMW, und dieser parkte beim Hotel.
Lieke steuerte den Wagen aus dem Zentrum von Groningen heraus, während die sich mit Jayden nur wenig in der eigenen Sprache über Belanglosigkeiten unterhielt. Sax machte nicht den Versuch, sich in die Unterhaltung einzuschalten, und auch Yasmine blieb still. Über die breiten Zubringerstraßen ging es zu einem der äußeren nördlichen Bezirke, der Dorkwerd heißt und sich früher durch weites, offenes Land ausgezeichnet hatte. Inzwischen waren dort verschiedene Neubauviertel entstanden, und schon von Ferne erkannte man schemenhaft unvollendete Bauarbeiten an weiteren Häusern. Nach insgesamt zwanzig Minuten flüssiger Fahrt durch die Nacht stoppten sie vor einem modernen, erst seit kurzer Zeit fertig gestellten eindrucksvollen Klinkerbau am Ende einer Sackgasse, die zu einer jener Neureichen-Villensiedlungen gehörte.
Yasmine, Jayden und Freysing stiegen aus. Letzterer spannte den Schirm nicht auf, für die paar Schritte vom Straßenrand zum Gebäude würden sie keinen benötigen. Der Regen hatte deutlich nachgelassen und es fielen nur noch vereinzelte Tropfen. Im Schein der Straßenlaterne konnte er Jayden kurz genauer betrachten.
Der Student wirkte bei seinen etwa 1,70-1,75 Metern recht schmächtig und schien wenig Sport zu betreiben. Er hatte ein sommersprossiges Gesicht und trug die mit hellen rötlichen Strähnen leicht eingefärbten hellblonden Haare in einem gepflegten Pagenschnitt, durch welchen er im Kunstlicht ein wenig wie ein viel zu blasser koreanischer Popsänger namens Kim Heechul aussah. Mit dessen Alter hatte Sax richtig gelegen – um Anfang zwanzig.
Das einschließlich Dachgeschoss zweistöckige Haus lag hinter einer kleinen, sehr gepflegten englischen Rasenfläche und einem vorgelagerten hüfthohen Metallzaun ohne Tor, ungefähr zehn Meter von der Straße entfernt. Es besaß rechts und links neben dem breiten, überdachten Eingang je zwei hohe weiße Sprossenfenster mit Scheibengardinen und offenstehenden Läden. In der linken Hälfte der unteren Etage brannte Licht, ein Fernseher flimmerte dort leise vor sich hin, ansonsten war alles dunkel und still. Zum Haus hin verlief ein kurzer Plattenweg aus Natursteinen, gesäumt von gerade erst angelegten Hecken kaum über Knöchelhöhe. Sauber gerundete vereinzelte Ziersträucher bildeten ein symmetrisches Muster auf dem Rasen. Das obere Stockwerk wurde von steilen trapezförmigen Dachschrägen beherrscht, besaß aber beinah ebensolch große Fenster wie das Erdgeschoss, nur ohne die schweren Holzläden. An jeder der beiden spitzen Ecken des Schindeldaches thronte ein abgedeckter gemauerter Kaminschlot und verlieh ihm damit eine Art Krönung. Aus einem davon stieg sparsamer heller Rauch auf und wurde vom kaum noch regnerischen Wind verweht. Sax würde die Adresse wiederfinden und das Haus wiedererkennen können. Das musste nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein, wenn man ihn so sorglos hierher brachte.
Neben dem Haus gab es als etwas zurückgesetzten Anbau eine Doppelgarage, die im gleichen Baustil wie das Haus gehalten war, freilich völlig fensterlos. Ihr nach oben hin gerundetes breites Doppelflügel-Tor stand offen und gab den Blick auf eine nagelneue, silberne Mercedes E Limousine mit deutschem Kennzeichen frei. Der Platz daneben war leer. Alles roch hier irgendwie nach Geld.
Als sie das Grundstück von der Straße her betraten, sprang die über Bewegungs-melder gesteuerte Beleuchtung an und hüllte die Tür und den Bereich vor ihr in helles, weiches Licht. Sax entging nicht das Videoauge über dem Eingang, durch welches man jeden, der sich durch den Garten bewegte, beobachten konnte.
Lieke setzte derweil geschickt den Wagen rückwärts in den Garagenanbau neben die dortige Limousine, kam zu Fuß wieder heraus und schloss die Torflügel. Über einen schmalen weiß gekiesten Fußweg entlang der Fassade gesellte sie sich vor der Haustür wieder zu ihnen. Sie wirkte im Licht etwas kleiner und doch ein paar Jahre älter sowie lebenserfahrener als Jayden. Sax konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie das verhärmte „Studentenmäuschen“ nur spielte und selbst mit allen Wassern gewaschen war. Sie sprach, wenn sie es tat, stets nur wenig und in kurzen Sätzen; fast konnte man auf eine militärische Ausbildung tippen, vielleicht war sie ja sogar bereits in einem der Terroristencamps im Nahen Osten oder Afrika gewesen. Ihr hübsches leicht kantiges Gesicht mit dem schulterlang fallenden glatten Punk-Haar hätte mit einer anderen Farbgebung in jedes Modemagazin gepasst. Auffällig waren ihr recht herbes Moschus-Parfum, das nun im Wind erst richtig zur Geltung kam und ihn ein klein wenig an Susannes früheren Lieblingsduft erinnerte, sowie die Tatsache, dass sie kaum Schmuck trug.
Es gab kein Namensschild auf der einzigen Klingel, welche Jayden nun betätigte. Entweder war das Haus erst vor kurzem bezogen worden, und man hatte es einfach bislang versäumt - oder es war Absicht. Freysings Blick fiel auf die Hausnummer: Dreizehn. Wenn das mal kein böses Omen war. Während die Takte des melodischen hellen Mehrtongongs noch verhallten, hörten sie kurze Schritte hinter der Tür und sie wurde von innen geöffnet. Den Türrahmen füllte sogleich ein Mann, Mitte Dreißig etwa, mit ungesund grau wirkender Gesichtshaut und einem fast unnatürlich glatt daherkommenden und enganliegendem Haupthaar, sowie ebensolchem dünnem Vollbart, ferner einer Tabakspfeife im Mund, die er auch zur knappen Begrüßung nicht herausnahm. Sie verströmte einen süßlichen Duft, und Freysing war sich ziemlich sicher, dass nicht alles darin einfacher Tabak war.
„Guten Abend miteinander, habe den Wagen schon gehört gehabt, Jayden!“, nuschelte er recht undeutlich, etwas kurz angebunden.
Er war beinahe so groß wie Sax, etwas schmaler von Statur, trug bequeme aber offensichtlich teure Freizeitkleidung aus der gepflegten Herrenboutique und strahlte äußerlich eine unbändige Energie aus. Der Hausbewohner bat sie, hereinzukommen und im Wohnzimmer in der lauschigen Kaminecke in einem armlehnlosen stylischen Sofa und zwei zugehörigen Sesseln Platz zu nehmen, nachdem sie Mäntel und Jacken an der Flurgarderobe losgeworden waren. Der Student titulierte den Hausbewohner mit „Dokter“, aber nannte keinen Namen.
Höflich bot der Gastgeber den Ankömmlingen Getränke an und Lieke schickte sich an, in einer benachbarten großen Küche Tee für alle zuzubereiten, während Yasmine, Jayden und Freysing sich in der Sitzgruppe niederließen. Der Dokter schürte ein wenig das Feuer im Kamin, schaltete den bislang leise im Hintergrund laufenden Fernseher, der noch Bilder von den Aufräumarbeiten bei Bonn zeigte, mit der Fernbedienung aus und gesellte sich dann zu ihnen. Diesmal nahm er die Pfeife aus dem Mund, bevor er sprach.
„Sie sind also der Mann, der unsere liebe Yasmine hier mit einer Waffe bedroht hat, Herr…“ , fing er an, mit dem Kopf lächelnd kurz auf sie deutend. Er war inzwischen offenbar weiter über die Begegnung dort informiert.
„Ich konnte ja nicht wissen, wie gefährlich sie ist. Mein Name ist Bendler. Pascal Bendler…“. Yasmine sah ihn kurz irritiert an, weswegen er sich beeilte, hinzuzufügen: „Aber im Augenblick nenne ich mich Freysing.“
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