Obwohl Sax keineswegs riskant fuhr, kamen sie zügig voran, sie nutzen fast beständig bei eingeschaltetem Licht die äußerste linke Spur. Er bremste die Limousine stets rechtzeitig ab, wenn das Navigationssystem vor einer sogenannten Gefahrenstelle warnte. Je weiter sie nach Norden vorstießen, desto verregneter wurde der Abend. In der Ferne zuckten vereinzelt Blitze, ohne dass ein Donnerhall bis zu ihnen drang. Bei Venlo passierten sie irgendwann die offene Grenze – trotz der Terrorsituation in Deutschland gab es keine besonderen Ausreisekontrollen, nur ein vereinzelter Streifenwagen der Autobahnpolizei stand kurz vor der Stelle, die den Übergang markierte. Er steuerte nun auf der niederländischen A73 Nijmegen mit zulässigem Höchsttempo entgegen. Wenn Amostar tatsächlich nach Holland weitergereist war, hatte er dabei keine Probleme gehabt. Manchmal wünschte man sich die Zeit vor Schengen zurück.
Der automatische Sendersuchlauf fand einen anderen Kanal und brachte jetzt niederländische Kurznachrichten. Freysing verstand genug von der Sprache, dass es im Wesentlichen um den verheerenden Anschlag auf den Nachtzug Zürich-Amsterdam in Deutschland und die Fortschritte bei der Bergung der Opfer ging. Die melodischen holländischen Klänge der Sprecherin schienen das Ereignis beinahe etwas zu verharmlosen. Dann wurde wieder Musik gespielt. Diesmal ältere Songs, unter anderem gab die Sängerin Caro Emerald „A Night like this“ zum Besten.
Bald durchquerten sie bei inzwischen heftigen Regenfällen das Gelderland. Sax reduzierte etwas die Geschwindigkeit, aber das Navigationssystem teilte ihm sogleich mit, dass sie trotzdem noch frühzeitig genug in Groningen ankommen würden, um pünktlich im Casino zu sein. Vorher würden sie noch im nahen Hampshire City Hotel einchecken, in dem Freysing von der Caféteria in Koblenz aus zwei nebeneinander liegende Einzelzimmer telefonisch vorbestellt hatte - für sich und seine mehr oder minder unfreiwillige Begleitung.
Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr, als sie beim Hotel vorfuhren und schnell ihre Zimmer bezogen. Ihre Sachen mussten sie selbst nach oben in den zweiten Stock bringen, um diese Uhrzeit gab es, falls überhaupt, keinen Gepäckservice. Die Zimmer waren schlicht eingerichtet und ohne Verbindungstür, aber beide mit Doppelbetten ausgestattet. Bei der Eintragung für die getrennten Zimmer in die Meldeformulare war Yasmine möglicherweise ebenso enttäuscht wie der zuvor zeitunglesende und dann süffisant grinsende Empfangschef überrascht gewesen. Sax entging nicht, dass die junge Frau tatsächlich mit dem Nachnamen „Schmidt“ unterschrieb, aber als Wohnort „Köln“ und nicht „Koblenz“ angab. Auch Sie hatte allerdings Augen im Kopf und registrierte seine Angaben auf dem Meldezettel.
„Freysing?“, fragte sie, während sie die Treppe hinauf gingen und unter sich waren.
„Das ist natürlich nicht mein richtiger Name.“, gab er lakonisch zurück.
Solange Yasmine ihr eigenes Zimmer bezog, hatte Freysing in dem seinem nur kurz Gelegenheit, eine weitere Nachricht nach Berlin abzusetzen, um Informationen über eine „Yasmine Schmidt aus Köln“ zu ersuchen, obwohl er eigentlich nicht glaubte, dass dies ihr tatsächlicher Name war. Er musste den Kontakt mit der Zentrale beenden, als sie bereits wieder an seiner Tür klopfte, und konnte so die Antwort seiner Dienststelle nicht abwarten.
Die Zeit drängte jetzt ein wenig. Es war bald dreiundzwanzig Uhr. Die wenigen Meter zum Spielcasino absolvierten sie zu Fuß, wobei er nicht vergessen hatte, einen kleinen Schirm aus seinem Reisegepäck mitzunehmen. Sie hakte sich bei ihm unter und er war bemüht, den Regenschutz tief genug und seitlich zu halten, damit sie nicht nass wurde. Allerdings hatte sich zum Regen nun auch noch ein ordentlicher Wind gesellt, sodass er leichte Schwierigkeiten damit bekam, den Schirm überhaupt festzuhalten.
Kaum hatten Yasmine und Sax das Hotel wieder verlassen, wurde die Lobby von der Straße her von einem jungen Mann betreten, der es eilig hatte, die Halle zu durchqueren. Derjenige am Nachtempfang warf nur einen kurzen desinteressierten Blick auf ihn und widmete sich gleich wieder seiner Zeitung.
Der Besucher war groß gewachsen, die langen braunen in einer breiten Welle auf seine Schultern fallenden Haare wirkten gepflegt, eine modische Brille mit beinahe rechteckigen Gläsern verlieh ihm etwas interlektuelles. Er trug Markenjeans und ein hellblaues Hemd, darüber eine offene Jeansjacke desselben Herstellers wie jenem der Hose, sowie eigentlich gepflegte dunkelbraune Schuhe, sämtliche Kleidung nun allerdings mit deutlichen Regen- und Spritzwasserspuren versehen. Er ging eilig über die Treppe in jene Etage, in welcher Freysings und Yasmines Zimmer lagen und blieb vor der Nummer 208 stehen. Sax´ Unterkunft!
Sämtliche Hotelzimmer waren mit gleichartigen elektronischen Schlössern gesichert. Der junge Mann nahm ein kleines Gerät aus der Tasche seiner Jacke, dessen eines Ende über ein kurzes Breitbandkabel hinweg die Form einer Schlüsselkarte aufwies, und steckte sie in den vorgesehenen Schlitz des Kästchens unter der Türklinke.
Nachdem er einen der kleinen eckigen Knöpfe auf dem Gerät gedrückt hatte, dauerte es nur noch etwas mehr als eine Sekunde, bevor die Anzeige der Türsicherung von „rot“ auf „grün“ umsprang und ein deutliches Klacken signalisierte, dass diese nun nicht mehr verriegelt war. Das elektronische Einbruchswerkzeug verschwand sofort wieder in einer seiner Taschen. Die Klinke der Tür ließ sich nun herunterdrücken, um sie zu öffnen. Der junge Mann versicherte sich, dass kein neugieriges Zimmermädchen in der Nähe war, dann betrat er den kurzen Flur hinter der Tür, drückte sie sorgsam hinter sich ins Schloss und stand mit drei weiteren Schritten bereits mitten in dem Hotelzimmer.
Sax hatte seinen Reisekoffer ausgeräumt und die wenigen Kleidungsstücke ordentlich im Wandschrank untergebracht. Der Koffer selbst stand in einer Ecke neben dem Bett. Der Mann hob ihn auf ein kleines Tischchen, öffnete ihn, fand aber darin nichts vor. Das zweite Gepäckstück, ein sehr schmaler Aktenkoffer, beinhaltete neben einigen Büroutensilien und der Pistole, die Sax Yasmine abgenommen hatte, das IPad. Der junge Mann nahm es heraus, setzte sich in einen der beiden kleinen Sessel an der Wand und stellte es auf seinen Schoß. Er klappte es auf und wurde sogleich von der Aufforderung begrüßt, ein Passwort einzugeben.
„Okay!“, sagte er zu sich selbst und nahm einen Spray aus der anderen Tasche seiner Jacke, mit dem er die Tastatur einnebelte, bevor er auf die einsetzende Wirkung wartende. Auf beinahe allen Tasten waren nach kurzer Zeit deutliche Fingerabdrücke zu erkennen. Diese besah er sich nun mit einer kleinen kugelschreibergroßen Schwarzlichtlampe und einer Schieblupe, die er wie den „Türöffner“ und den Spray mitgebracht hatte. Es gab einige Überlagerungen, als seien bestimmte Tasten mit verschiedenen Fingern betätigt worden. Wenn man mit Zehnfingersystem Texte schreibt, werden dieselben Tasten normalerweise immer von denselben Fingern betätigt. Auf einer Taste, die üblicherweise von einem Ringfinger betätigt wird, hat folglich der Abdruck eines Zeigefingers nichts verloren. Auf diese Weise konnte er sorgfältig nach und nach sechs Tasten identifizieren, die wohl von falschen Fingern, wahrscheinlich einem Zeigefinger, gedrückt worden waren.
„3RNUJKP", murmelte er die identifizierten Tasten vor sich hin. Ein sinnvolles Wort ergab dies in keiner Kombination, zumindest nicht in einer Sprache, die er beherrschte. Alle Kombinationen manuell auszuprobieren, würde Jahre brauchen. „Wäre ja auch zu simpel gewesen“, ergänzte er leise auf Holländisch. Dann schloss er das Gerät, drehte es um und besah sich die kleinen versenkten Schrauben auf der Rückseite.
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