Seine ins Detail gehenden Schilderungen des Alltags eines Gemeindediakons verdeutlichen die Vielseitigkeit einer solchen Tätigkeit in einer Großstadtgemeinde. Familiäre Erinnerungen wurden zum Teil gekürzt, jedoch soweit wiedergegeben, wie sie die Verflochtenheit von Beruf und Familie zum Ausdruck bringen, zumal der Dienst Hugo Wietholz’ durchgehend von seiner Familie stark unterstütz und mitgetragen wurde.
Ein besonderer Dank gilt Lisa Weitholz für die Bereitstellung von Text und Bildern und das Korrekturlesen.
Hamburg, 2002 / 2005 /2014 Jürgen Ruszkowski
Hugo Wietholz, in kleinbürgerlicher Umgebung unter kriegsbedingten Entbehrungen aufgewachsen, durch die Jugendbewegung zwischen den Weltkriegen geprägt, zur Zeit des Nationalsozialismus konträr zum Zeitgeist entschieden ein Mann der Bekennenden Kirche, schrieb seine Lebenserinnerungen sehr detailliert, teilweise aus freier Erinnerung, für die Jahre 1938 bis 1991 an Hand von Tagebuchaufzeichnungen, für seine Familie auf.
1989:„Nach langer Zeit hole ich meine Tagebuchaufzeichnungen in den Diakonenkalendern hervor. Ich staune über all das, was uns so bewegte. Man wundert sich, was man so alles zuwege gebracht hat, aber was ist nun von bleibendem Wert? Ich beginne, das zu Papier zu bringen. Von jetzt an schreibe ich jeden Morgen ein paar Stunden.“ Er schloss seine Notizen im Sommer 1992 ab. Es wurde eine zeitgeschichtliche Fundgrube. Der Alltag eines tief im christlichen Glauben verwurzelten, begnadeten Jugendführers und engagierten Gemeindediakons wird in diesen Zeilen sichtbar. Überarbeitete Auszüge daraus sollen hier einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden:
Hugos Kindheit
„Aus der Jugendzeit klingt ein Lied mir immerdar, o, wie liegt so weit, was einst mein eigen war.“ Ja, nach über 80 Jahren klingt es immer noch, weit stärker, als man es vorher wahrhaben wollte. Im Blick auf die erste Zeit meines Lebens, kann ich nur in großer Dankbarkeit gegenüber unserem Herrn Christus zurückblicken. Urteilt selbst, wenn ihr euch diese Zeilen zu Gemüte führt. Es ist viel Menschliches, allzu Menschliches darunter, aber es zieht sich unbemerkt ein roter Faden durch mein Leben, der ein Ziel hat.
Wir schrieben 1909. Es war die Zeit Kaiser Wilhelms II., der wohl bescheidener hätte auftreten und sich nicht von schlechten Ratgebern hätte leiten lassen sollen, bevor er den eisernen Kanzler vom Regierungsschiff verbannte.
Ich konnte am 4. September 1909 um 11.30 Uhr in der Wrangelstraße in Hamburg in einer gut möblierten Wohnung zum ersten Mal in die Sonne blinzeln. Ja, da war nun der Stammhalter, der die Namen Hugo, Henry, Karl erhielt.
Mein Vater war klein und gedrungen aber kräftig von Statur. Er war ein fleißiger Mann. In seinem Beruf konnte ihm keiner etwas vormachen. In seiner Gesellenzeit war er auch auf Wanderschaft gewesen. Sein Fleiß und seine Begabung kamen ihm zugute, er wurde Vorarbeiter mit besonderer Verantwortung. Die große Firma hat ihn später immer wieder geholt. Anfangs war er wohl in der Gewerkschaft gewesen. Als es dann zum Streik kam, hat man ihm kein Streikgeld gewährt, weil er nicht genügend Mitgliedsbeiträge gezahlt hätte. Wenn er nicht in der Firma arbeiten konnte, so gab es für ihn bei seinem Vater, der ja Meister war, genug zu tun, auch wenn man ihn dann als Streikbrecher beschimpfte. Die Familie brauchte das Geld. Wenn ich mal am Tag zur Aufwartung weggegeben werden konnte, arbeitete Mutter als Reinmachefrau. Die Abzahlungen drückten, und man wollte finanziell Luft haben.
1910-1915
Da war ja nun der kleine Hugo, der sich körperlich gut entwickelte. Mutter gab mir viel Milch. So nahm ich gut zu, ob auch an Geist und Weisheit, lässt sich nicht sagen, mal sehen, was später daraus wurde.
Erst mal kam der 26. Juni 1910. Man brachte mich zur Taufe in die Johanniskirche. Pastor Bernitt vollzog die Taufe. Mutter sagte mir später, dass das bei Donner und Blitz geschah. Der Taufspruch stammte aus den Sprüchen Salomons 23, Vers 26, und da heißt es: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz und lass deinen Augen meine Wege wohlgefallen.“ Eigenartig, nachher stellte ich fest, der Spruch passte für mein ferneres Leben.
In unserer Familie ging es wohl auf und ab, denn plötzlich bekamen meine Eltern, das Angebot einer Kellerwohnung, in der Knauerstraße 9. Hier haben wir wohl einige Zeit gewohnt. Meine Mutter ist oft mit mir, in der Karre, ausgefahren. Es ging zur Sengelmannstraße. Hinter der Kirche konnte ich spielen. Im Sommer konnte ich in der Alster baden, die Alsterdampfer machten Wellen, und ich jubelte.
Dann kam der Augenblick, dass man aus dem Keller aufsteigen konnte, denn siehe, in der Hinterhof-Terrasse wurde in der 2. Etage, im Haus Nummer 11c, eine Wohnung frei. Die Beleuchtung bestand noch aus Petroleumlampen.
Es war der 13.12.1913: Ich wurde aus der Wohnung geschickt, saß fröstelnd draußen auf der Treppe und sollte warten. Mein Vater gab mir zur Beruhigung eine getrocknete Feige. Ich spürte, mit Mutter ist irgend etwas nicht in Ordnung. An diesem Tag wurde meine Schwester geboren. Ich hörte später, bei dieser Geburt wäre meine Mutter fast verblutet. Gott sei Dank, alles verlief noch so, dass wir Mutter behalten durften. Ob ich mich zur Schwester, die den Namen Marie bekam, gefreut habe, weiß ich nicht mehr. Nur eines weiß ich, mit der Ruhe war es vorbei.
Kriegszeit
Am 1. August 1914war der Krieg ausgebrochen. War das eine Aufregung. Blöd war das Gesinge: „Siegreich woll’n wir Frankreich schlagen.“ Es sollte ein Krieg sein, den man bis Weihnachten beendet haben wollte.
An einem Abend, es war ein Sonnabend, saß ich in der Zinkbadewanne. Mutter machte das Licht aus und sagte: „Still!“ Über Hamburg brummte tatsächlich ein englisches Flugzeug.
Weihnachten wurde nun mit dem neuen Erdenbürger gefeiert. Mariechen äugte ganz erstaunt in die Kerzen. Das Fest wurde schon durch die Einberufung meines Vaters zum 23.1.1915 getrübt. Ausgerechnet jetzt, da wir ein neues Familienmitglied hatten, wie sollte es nur werden, wenn der Vater nicht mehr verdienen konnte. Vom Staat wurde dann doch durch Unterhaltszahlung geholfen. Die Kriegerfamilien bekamen eine Kriegsversorgung.
Die Verluste im Westen wurden immer größer, die Blockade gegen die Wirtschaft immer stärker, und nun wurden Lebensmittelkarten eingeführt. Die Stimmung war gedämpft. Die Verpflegung bestand hauptsächlich aus Kohl und Steckrüben. Oft bin ich mit einem Henkeltopf gegenüber zu der Badeanstalt gegangen und konnte dort im Keller den Topf mit Kohlsuppe füllen lassen.
Von Vater hörten wir, er müsse an die Ostfront. In den nächsten Jahren erlebte ich ihn nur mal im Urlaub oder wenn er im Lazarett lag.
1916-1922
1916 wurde ich eingeschult. Ich hatte es gut, brauchte nur über die Straße zu gehen und war in der Schule. Diese Schule in der Knauerstraße steht heute noch, sie hat auch den 2. Weltkrieg überdauert. Es war eine Knabenschule.
Mein erster Eindruck war: Lauter Mütter mit ihren Jungen warteten. Ein älterer Lehrer nahm uns in Empfang und hielt eine Ansprache. Dann ließ er uns die Klappen der Pulte öffnen und wieder schließen. Ganz langsam ging der Lernbetrieb mit den neuen Lesebüchern los.
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