O du Fröhliche
Gesammelte Weihnachtsgeschichten
aus sieben Jahren
Caroline Döring
Thea Eickmeyer
Friedricke Hackmann
Sabine Hübner
Judith Ischen
Anja Kasseckert
Lisa Kuppler
Connie Panzenböck
Jonathan Rose
Doris Rüb
Angelika Schindler
Kim Skott
Maike Stein
Julia Werner
Wie es zur Weihnachtshefttradition kam
Es war einmal vor unendlichen Zeiten ...
Nein, ganz so lange zurück liegt die Idee zum Weihnachtsheft dann doch noch nicht. Es war im düsteren November 2009, da saßen drei von uns zusammen, Weihnachten nahte, und in den Kassen herrschte Ebbe. Wir blickten der Tatsache ins Auge, dass wir unseren Liebsten nichts würden schenken können. Kein schöner Gedanke. Was tun?
Da ist diese eine Sache, die wir können: Geschichten erfinden. Geschichten lektorieren. Geschichten Korrektur lesen. Eine Buchidee umsetzen. Cover designen. Mit dieser Expertise musste sich doch ein Weihnachtsgeschenk machen lassen. Und so entstand das erste Weihnachtsheft.
Als Thema und Titel wählten wir das Weihnachtslied »Alle Jahre wieder«, ein paar weitere Mitschreibende und eine Grafikerin für die Covergestaltung waren schnell gefunden. Um den Umfang des Hefts überschaubar zu halten, begrenzten wir die Länge der Geschichten auf tausend Worte.
Und weil das Weihnachtsheft bei den Beschenkten so gut ankam, machten wir im nächsten Jahr noch eins (»Leise rieselt der Schnee«) und im folgenden Jahr das nächste (»Stille Nacht«) und – so wurde daraus eine Tradition, der wir noch immer die Treue halten. Diesen Dezember erscheint das inzwischen achte Weihnachtsheft.
Im vorliegenden eBook versammeln sich 51 Geschichten aus den Weihnachtsheften der Jahre 2009 bis 2015.
Wir wünschen viel Spaß beim Lesen und fröhliche Weihnachten!
Im Dezember 2016
Die Autor*innen
Alle Jahre wieder
2009
Sabine Hübner
Alle Jahre wieder trifft sich unsere Großfamilie und feiert gemeinsam Heiligabend. Alle Jahre wieder bedaure ich, nicht Medizin studiert zu haben. Allergologie. Unsere Familie wäre ein Eldorado für jeden Allergologen.
Ursprünglich wollte ich Psychologie studieren. Zwei Jahre vor dem Abitur stand für mich das Thema meiner Doktorarbeit fest: Saisonales weihnachtliches Irresein und dessen Ursachen in der elterlichen Kindheit. Nach eigener Aussage war die Weihnachtszeit für beide ja die glücklichste Zeit ihrer Kindheit gewesen. Beleuchtet man dies näher, lautet die Erklärung bei Mutti, dass ihre ungeliebten Pflegeeltern im Dezember immer nach Davos flogen und sie über Weihnachten gemütlich im Internat bleiben durfte. Und die Erklärung bei Vati (dem multiallergischen Kind): Dezember war der einzige Monat, wo endlich mal nichts blühte.
Es ist früher Nachmittag. Einige von uns wollen später vielleicht in die Kirche gehen oder auch nicht. Max und Minni sitzen am Tisch und malen. Minni ist ein bisschen erkältet, aber zum Glück fieberfrei. Meine Schwester Pia hat sich mittags mit Tomatensuppe bekleckert (sie hat schon vor dreißig Jahren gegessen wie ein Ferkel), und Mutti hat ihre Jeans gewaschen. Jetzt blafft Pia Mutti an, weil die statt allergiegetesteter Waschnüsse Persil benutzt hat. Das Hasswort. Pest, Lepra, Cholera – Persil.
»Du weißt doch«, schreit Pia, »dass ich von Persil Ausschlag kriege!«
»Du weißt doch«, schreit Mutti zurück, »dass von diesen blöden Waschnüssen die Heizstäbe verkalken! An so was denkt ihr natürlich nicht! Außerdem braucht’s für hartnäckige Flecken schon was Stärkeres als Bio!«
Was in Mutti an Weihnachten vorgeht, ist unergründlich. Das ganze Jahr über verwendet sie das geschmähte Biozeug, aber an Weihnachten soll alles »einmal ganz normal« zugehen. Und das gilt nicht nur fürs Waschmittel.
»Du hast doch keine Ahnung«, schreit Axel aus dem Bad, »Waschnüsse besitzen sogar noch bessere Waschkraft. Die Saponine werden aus den Schalen rausgekocht und lösen Dreck besonders gut aus den Fasern.«
Natürlich hat er recht. Und Mutti weiß das auch. Waschnüsse sind ein Lichtblick für Allergiker wie Vati und mich und Tilde, Jonas, Mäxchen, Pia und Axel, auf Hautfreundlichkeit getestet. Die Waschnüsse, nicht Axel. Obwohl bestimmt auch Axel hautfreundlich ist, sonst wäre Pia nicht schon so lang mit ihm zusammen. Vor fünf Jahren haben sie sich auf Station C der Universitätshautklinik kennengelernt, im dermatologischen Hochsicherheitstrakt. Kontaktallergiker, zusätzlich geplagt mit allerlei Kreuzallergien. Beiden geht es mittlerweile besser. Also keine Chemiewaschmittel, damit es so bleibt.
Mutti schüttelt den Kopf und zischt in Richtung Bad, »Bellum omnium contra omnes!«, weil sie Axel ärgern will, der kein Latein kann. Dann geht sie in die Küche, um Kartoffeln zu schälen.
Jemand niest im Treppenhaus. Vati muss gar nicht erst klingeln. »Opa!«, ruft Minni glücklich. Minni ist meine Tochter und völlig aus der Art geschlagen. Fünf Jahre und noch keine Allergie. Muss ich mir Sorgen machen? Kleiner Scherz.
Mutti kommt aus der Küche, gibt ihr ein Hustenbonbon und fragt, ob sie ihr beim Kartoffelschälen helfen mag.
Vati ist leicht angesäuert. Jemand hat ›exotisches Weihnachtsgestrüpp‹ durchs Treppenhaus getragen. Sonst müsste er ja nicht niesen. Er hat verdrängt, dass er schon seit vier Wochen schniefend unterm einheimischen Adventskranz sitzt und Muttis Weihnachtsplätzchen nur unter gleichzeitiger Gabe von Cortison probieren kann. Vati ist gegen fast alles allergisch. Auch gegen Anis, Zimt und Koriander, Nuss und Mandelkern, Kokos, Rosenwasser, Rumaroma, also sämtliche Zutaten, die ins Weihnachtsgebäck so reinkommen. Übers Jahr niest und schnieft er zwar auch, aber kein Vergleich zu Dezember! Zwar blüht im Dezember nichts, doch über diesen Umstand setzt sich Vatis Immunsystem souverän hinweg. Es identifiziert alle Wintersubstanzen als feindlich und körperfremd. Ich stelle mir das so vor: Kaum schwenken Anis, Kokos, Zimt & Co die Tannenzweiglein und rufen zart Advent, Advent! , johlt Vatis Immunsystem April, April und schüttet tonnenweise Histamin aus.
Mutti ist gegen nichts allergisch außer Hausstaub – das allerdings verschärft. Deshalb wuchsen wir vier Kinder in einer völlig sterilen Umgebung auf und sitzen nun mit im Allergikerboot.
Früher hegte jedes von uns Kindern seine ganz spezielle Allergie, beharrte auf seinem ureigenen Allergieprofil. Selbst wenn es Überschneidungen gab, hätte das keiner von uns je eingestanden. Streiften Tilde und ich laut niesend durch die Wiesen, schob ich mein Gerotze trotzig auf Tierhaare oder Schimmelpilzsporen.
Doch nun sind wir erwachsen, und diese Form der Abgrenzung spielt keine Rolle mehr. Da ständig neue Allergene und Kreuzallergien hinzukommen, verliert man irgendwann den Überblick.
Ich packe die mitgebrachten Plätzchen aus. Mutti hätte die Wahl, entweder gar nicht zu backen oder mindestens zwanzig verschiedene Diät-Varianten. Sie hat sich für die dritte Möglichkeit entschieden: Sie backt Plätzchen nach traditionellen Rezepten, mit allem drum und dran und drin und stellt einen riesigen Weihnachtsplätzchenteller auf den Tisch, von dem nur sie selber essen darf (keins der Rezepte enthält nennenswerte Hausstaubmengen). Was sie nicht schafft, wird an allergiefreie Freunde, Nachbarn, Kollegen, Bekannte und Verwandte verschenkt. Für Vati, uns Kinder und Kindeskinder bedeuten Muttis Plätzchen Lebensgefahr.
Damit wir nicht darben müssen, bringt jeder von uns seine eigenen Weihnachtsplätzchen mit. Von den Zutaten her haben wir uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt – minimalistische Rezepte mit sehr überschaubarer Zusammensetzung, von denen jeder gefahrlos essen kann: Weihnachtsplätzchen ganz ohne Eischnee, Milch, Anis, Kokos, Weizen, Hafer, Dinkel, Nüsse, Mandeln, Zimt, um nur einige verbotene Zutaten zu nennen. Unsere allgemeinverträglichen Plätzchen bestehen aus Reismehl, Zucker und Wasser. Sie sehen alle gleich aus und schmecken nach nichts.
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