„Ja, aber man muss auch an sich denken“, gab Mireille zu bedenken.
„Das ist bei euch Europäern so. Bei uns nicht. Ich hätte den Luxus egoistisch zu sein. Aber wir können und dürfen es nicht sein. Diese Solidarität ist das, was uns die Möglichkeit gibt glücklich zu sein, glücklich zu leben. Es wäre in Afrika unmöglich, dass eine reiche Frau wie du keine gesellschaftliche Verpflichtung trägt und nur für sich allein lebt. Das ist beinahe wie eine Sünde, finde ich. Das tut der Seele nicht gut“, argumentierte Ayossi.
„Was soll ich tun? Ich kann keine Kinder bekommen, ich habe keine Geschwister, und meine Eltern brauchen meine Hilfe nicht“, versuchte Mireille sich zu erklären.
„Ja, aber es gibt so viele Menschen in Frankreich, die in Not leben, denen das Nötigste fehlt. Man muss nicht nur Familienmitgliedern helfen. Du lebst in einem Haus mit so vielen Zimmern. Das ist zu leer, es braucht Energie. Weißt du, woher die leeren Räume ihre Energie nehmen? Aus dir. Sie rauben dir deine Energie und am Ende bist du so leer, wie diese leeren Zimmer. In Kamerun wäre das Haus voll, voll mit Leben. Die Einsamkeit ist euer großer Feind. Die Einsamkeit frisst euer Geld und macht euch krank. Jedem sein Problem.“
„Ayossi, was sollen wir tun? Du hast schon recht. Die Einsamkeit kann schlimmer sein als die Armut.“
„Weißt du, Mireille, ich mag das Wort Armut nicht. Wenn wir von Armut reden, müssen wir definieren, auf was sich Armut bezieht. Es geht noch, wenn man nur materiell arm ist. Man kann aus eigener Kraft etwas dagegen tun. Schlimmer ist es, wenn du unter seelischer Armut leidest. Der eine ist arm, weil er nichts zu essen hat, der andere ist arm, weil seine Seele hungrig ist. Ich glaube, dass Teilen den Menschen erfüllt. Warum hast du keinen Mann, Mireille?“
„Du hast vielleicht recht mit deinen Ausführungen über die Armut. Weißt du, wir in Europa müssen die Armut so einseitig definieren, um unsere seelische Armut zu übersehen. Stell dir mal vor, es würde überall gesungen, dass wir seelisch arm sind und Hilfe brauchen? Es würde noch mehr Menschen noch depressiver machen, als sie es jetzt schon sind. Es beruhigt uns ein bisschen, wenn wir über die Armut der Anderen reden. Wir vergessen unsere eigene, und das macht unser Leiden erträglicher. Du bist noch nicht lange in Frankreich, sonst würdest du sehen, dass es hier mehr Psychologen gibt als Ärzte. Das sagt schon viel. Warum ich allein bin? Ich wusste, dass die Frage irgendwann kommen würde. Ich bin allein, weil ich noch nicht den richtigen Mann gefunden habe“, erklärte Mireille.
„Was ist denn ein richtiger Mann für dich? Wir Frauen, die studiert haben, müssen aufpassen nicht zu wählerisch zu sein.“
„Du hast recht, Ayossi, aber was tust du, wenn die Männer Angst haben, gerade weil du studiert hast? Ist es die Lösung, sich dümmer zu stellen, damit er sich stark fühlt? Die Männer, die ich treffe, haben Schwierigkeiten damit, dass ich selbstbewusst bin. Dass ich im Bett sage, was mir gefällt. Weißt du? Das ist doch ihr Problem, oder? Es geht nicht darum, wählerisch zu sein.“
„Ja, Mireille, ich verstehe deine Argumentation, aber du weißt, dass Männer ein bisschen wie Kinder sind. Es ist manchmal besser, sie nicht direkt mit ihren Mankos zu konfrontieren. Es ist gut, Geduld mit ihnen zu haben, bis sie Vertrauen haben. Männer sind viel schwächer als wir Frauen, und wir Frauen können ihnen helfen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Ich habe das Gefühl, dass Männer Probleme haben mit Frauen, die weiblich sind. Ich finde dich sehr hübsch, sehr weiblich. Du machst dich jeden Tag schön, wie eine Afrikanerin, schöne Fingernägel, Makeup, schicke Röcke und Kleider, Schuhe mit hohen Absätzen…“
„Genau das meine ich. Wenn du dich so anziehst, strahlst du als Frau automatisch Unabhängigkeit und Stolz aus, du wirkst wie jemand, die ihren Wert kennt und zu sich selbst steht. Das verunsichert die Männer. Sie mögen gern Frauen, die sich ständig beklagen, dass ihnen dies oder das an sich selbst nicht passt. Ja, sie lieben es, dann sagen zu können, nein, mein Schatz, du gefällst mir, wie du bist, du bist so hübsch . Ja, sie fühlen sich dann besonders, sie fühlen sich der Frau überlegen. Aber wenn sich eine Frau nicht beklagt, wenn sie zufrieden ist mit ihrem Po, den sie auch sehr selbstbewusst zeigt, wenn sie zufrieden ist mit dem bisschen Fett an den Hüften, wenn eine Frau nicht jammert, dass sie noch ein paar Kilos abnehmen muss, oder dass sie ein paar Pickel hat, dann sagen die Männer, sie wäre arrogant. Sie wäre zu männlich. Dabei zeigt die Frau nur stolz ihre Weiblichkeit, die man ihr ständig wegnehmen will. Es ist für viele Frauen fast eine Schande, wenn sie nicht ständig in Jeanshosen herumlaufen. Nee, ich warte! Der richtige wird kommen!“
„Aber je länger du wartest, desto schwieriger wird es für dich sein. Deine Ansprüche werden immer höher steigen“, wandte Ayossi ein.
„Ja, vielleicht ist es ein bisschen anders bei euch. Ich sehe es bei Amina. Vielleicht sollte ich mir einen Afrikaner suchen?“, scherzte Mireille.
„Naja. Ob es einen großen Unterschied gibt, weiß ich noch nicht. Ich habe es noch nicht mit einem weißen Mann probiert“, sagte Ayossi, und beide Frauen lachten darüber.
„Vielleicht solltest du es dann testen? Sonst wirst du nie den Unterschied kennenlernen, liebe Ayossi.“
„Aber reicht nicht das, was du da erzählt hast? Ich habe ja schon einen Mann, aber für dich könnte es wirklich interessant sein, einen Afrikaner zu testen, liebe Mireille? Du hättest es am nötigsten.“
„Oh, am nötigsten? Tstststs, ich vertrockne noch lange nicht, Ayossi!“
„Darum geht es nicht. Ihr Frauen, ihr denkt immer nur an das eine“, sagte Ayossi und die beiden brachen in lautes Gelächter aus.
Circa ein Jahr nachdem Ayossi bei Mireille angefangen hatte zu arbeiten, fing ein fremder Mann an, Ayossi während der Arbeit zu besuchen. Mireille hatte es ein paar Mal mitbekommen. Sie waren sich nicht direkt begegnet, sie hatte die beiden sich nur ab und zu vor der Villa verabschieden gesehen, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Sie dachte, dass sich Ayossi mit einem Mann träfe und sich vergnügte und nicht wollte, dass sie es wusste. Sie dachte, das wäre der Grund, warum er immer ging, kurz bevor sie kam und warum Ayossi nie etwas von ihm erzählte. Deswegen hatte sie auch nie nachgefragt. Es war Ayossis Recht, sich zu treffen mit wem sie wollte.
Heute aber kam der Mann zum ersten Mal, während sie zu Hause war. Es war ein Feiertag, der 14. Juli, der Nationalfeiertag Frankreichs. Niemand arbeitete an diesem Tag, und als Mireille in die Küche kam, war sie erstaunt, den fremden Mann dort sitzen zu sehen. Gut, dass sie nicht, wie sonst immer, wenn sie frei hatte, mit dem dünnen und durchsichtigen Nachthemd herunter gekommen war, um sich einen Kaffee zu holen. Diesmal hatte sie eine beige Jogginghose und ein rosa T- Shirt angezogen.
„Bonjour Mireille, ich stelle dir meinen großen Bruder vor. Man nennt ihn Johnny, Jo oder Jo-Jo“, begrüßte Ayossi sie.
„Hallo Johnny. Das klingt nicht sehr afrikanisch. Ich freue mich dich kennenzulernen. Ich heiße Mireille.“
„Hallo Mireille, die Freude ist auch auf meiner Seite. Sie hat mir viel von Ihnen erzählt, aber sie hat mir etwas vorenthalten und deswegen bin ich nun sehr sauer auf meine Schwester“, begrüßte Johnny Mireille.
„Übrigens kannst du mich auch duzen. Was hat sie dir denn über mich vorenthalten?“, wollte Mireille wissen.
„Ja, das Wichtigste überhaupt. Sie hätte mir zuallererst sagen müssen, dass du eine sehr besondere Frau bist.“
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