Andrea Ylä-Outinen
Mensch sein
It did happen
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Inhaltsverzeichnis
Titel Andrea Ylä-Outinen Mensch sein It did happen Dieses eBook wurde erstellt bei
PROLOG
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Epilog
Nachwort
Impressum
PROLOG
Das erste, was mir an ihm auffällt, ist seine Jacke. Irgendwie so ein Ding zwischen „Ich wollte mal ein Schaf werden“ und „Ich bin jung, wild, anders“. Mal eine andere Ansage zwischen all den Jack-Wolfskin´s, die hier so rumlaufen. Keine Schönheit, halt eine Jacke. Die warm hält. Klar, hier oben ist es ja auch ein bisschen kalt. Und verdammt windig. Eine schicke Frisur hält keine zwei Minuten, so sehr peitscht einem der Wind ins Gesicht. Die Jacke macht auf jeden Fall Sinn. Aber trotzdem- wieso rennt einer mitten im Sommer mit so einer dicken Jacke hier hoch?
Ich erfasse diesen Gedanken beim Betreten der Aussichtsplattform, verwerfe ihn jedoch schnell wieder. Denn meine ganze Aufmerksamkeit richtet sich nun auf die Aussicht. Vor mir erstreckt sich das Meer in seiner vollen Anmut und unendlichen Weite. Da, wo das Meer endet und der Himmel beginnt, ist ein schmaler weißer Streifen zu erkennen. Das Blau vor mir scheint grenzenlos. Die Wolken über uns ziehen sehr schnell vorbei. Ich kann die salzige Luft schmecken, fühle den Wind auf meinem Gesicht.
Die Aussichtsplattform befindet sich 100 m über dem Meer, welches unter mir in seiner erbarmungslosen Schönheit tobt, stürmt, die Wellen hochpeitschen lässt. Der Hang nach unten ist steil. Sehr steil. Verdammt steil. Und dicht bewachsen mit Büschen und dornigem Gestrüpp zwischen großen Steinen. Sofort packen mich meine Mutterinstinkte und ich halte meinen kleinen Sohn noch ein bisschen stärker an den Schultern fest, der gerade ein lautes „Booaaaaaaahh“ von sich gibt. Und sich dabei locker an den Holzzaun vor ihm lehnt. Ich schaue verstohlen nach links, und ja, meine zwölfjährige Tochter hat auch ein ehrfürchtiges Strahlen auf dem Gesicht. Wo sie doch eben noch so rumgemeckert hat. „Zu hoch, zu sonnig, zu anstrengend, und überhaupt- viel zu warm und das mitten im Sommer!“, so lautete ihre Argumentation. Nun hält sie inne und strahlt.
Wir alle drei schauen uns diese gigantische große Schönheit unter uns an, genießen die Aussicht auf die See. Die Elemente Wasser, Luft und Erde verbinden uns, lassen uns teilhaben an dem Wunder Leben.
Die Menschen kommen und gehen, eigentlich wollen sie zum Leuchtturm der sich nur ein paar Meter weiter hoch hinaus erstreckt.
„Ooooh toller Ausblick, schööööööön, knips mal schnell; Mann, ist das kalt, komm wir spazieren weiter“ klingt es von links und rechts. Mir wird auch langsam kalt und ein bisschen Höhenangst macht sich bei mir bemerkbar. Doch mein Sohn macht mir einen Strich durch den Plan, jetzt einfach weiter zu gehen:
„Ich muss mich jetzt erst mal ausruhen“, verkündet er.
„Hhm, macht Sinn, du musstest dich ja nur hinten auf dem Kindersitz vom Fahrrad hochschieben lassen“, sinniere ich.
Er legt sich auf die kleine Holzbank, die hinter uns steht. Ich setzte mich an sein Kopfende. Seinen Kopf legt er auf meinen Schoß, seine Füße auf seine Schwester, die sich mittlerweile ebenfalls zu uns auf das kleine wackelige Ding gesellt hat. Und ich blicke auf. Ich sehe ihn an. Er bemerkt mich nicht, er sitzt mit seiner dicken Jacke im Schneidersitz auf einem großen Stein und blickt auf das Meer. Seine braunen Locken wehen im Wind. Der Stein befindet sich hinter der Absperrung durch den Holzzaun. Er sitzt eigentlich ganz still dort, doch irgendwie auch wieder nicht, denn er ist von einer eigenartigen Unruhe umgeben.
Die Menschen auf der Aussichtsplattform laufen an uns vorbei, sie kommen und gehen, ich schaue die ganze Zeit nur ihn an. Ich bin wie hypnotisiert, als ob mir jemand den Hals zudrückt und ich kann mich nicht dagegen wehren. Denn ich sehe sie, in all ihrer Macht, ihrer Ungnade, ihrer Unbarmherzigkeit: seine Traurigkeit. Seine grenzenlose Traurigkeit.
Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen?
Warum muss er das?
Er starrt immer noch auf das Meer und zupft dabei nervös an seinen Haaren herum. Jetzt erst sehe ich ihn mir genau an. Er ist um die zwanzig, sehr schlank und groß. Und er wirkt auf mich unendlich hilflos und einsam. Eine Welle des Mitgefühls erfasst mich, seine Trauer erfasst auch mich, versucht mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen und fragt mich kokett:
„Na, kennste mich noch?“
Doch ich bleibe ganz ruhig. Ich habe das hinter mir gelassen.
Meine Tochter bemerkt, dass ich den jungen Mann anstarre. Doch sie sagt kein Wort. Es ist ein stillschweigendes Verständnis zwischen uns. Sie lächelt geduldig und blickt wieder auf das Meer. Mein Sohn ruht sich noch immer aus und sieht ebenfalls auf das Meer.
Der junge Mann schaut auch auf das Meer. Ich kann seinen Schmerz sehen, ja - und da reißt mich die Bitte meines Sohnes wieder zurück auf die Plattform:
„Mama, mir ist kalt, können wir gehen?“
Ich sammle unsere Taschen zusammen, werfe einen letzten Blick auf das Meer, mache von der Aussicht ein Foto mit der Handykamera und wir gehen an ihm vorbei. Doch ich bleibe plötzlich stehen, gehe zurück und spreche ihn an:
„Du kommst doch wohl nicht auf die Idee, zu springen, oder?“
Ich weiß nicht, woher dieser Gedanke plötzlich stammt, noch bin ich sonderlich verwundert über ihn. Es ist, als ob ein Blinder einen Blinden erkennt.
Seine Antwort unterstreicht mein Gefühl. Denn nun sieht er mich an, mit diesen braunen traurigen Augen. Er ist kein bisschen erstaunt, verwundert oder erbost über meine Frage und seine Antwort kommt ganz ruhig, mit einer weichen schwachen Stimme:
„Versprechen kann ich es nicht.“
1. Kapitel
Ich packe unseren Koffer aus und fluche leise vor mich hin. Denn ich habe meine Tabletten vergessen. Ich bin auf die tägliche Einnahme angewiesen, habe daher jetzt ein Problem. Auf das ich gar keine Lust habe. Genervt rufe ich meinen Papa an und bitte ihn, mir die Tabletten zuzuschicken. Dabei suche ich hektisch unsere momentane Adresse aus den Reiseunterlagen heraus, denn ich befinde mich mit meinen beiden Kindern im Sommerurlaub. Auf einer kleinen idyllischen Insel, die nur mit der Fähre zu erreichen ist. Wir haben uns ein kleines Ferienhäuschen mit Reetdach gemietet, in einer Ferienanlage mitten in einem Waldstück. Mit großem Spielplatz und direktem Strandanschluss. Natur pur. Unsere gemieteten Fahrräder stehen vor der Tür und warten auf neue Abenteuer. Sogar wenn es draußen seit Stunden regnet.
Mein Papa verspricht mir, den Brief noch heute loszuschicken. Denn es ist Freitag. Mittlerweile später Nachmittag. Das kann also dauern mit der Post. Ich berichte ihm noch kurz von unserer problemlosen Anreise und wie spannend die Überfahrt mit der Fähre für meinen zweijährigen Sohn war. Und beobachte dabei, wie Junior gerade unser Feriendomizil in Beschlag nimmt: er sortiert die Kissen und Rückenlehnen vom Sofa herunter, verteilt sie auf dem Boden, baut darauf einen imaginären Stau mit seinen Autos, reißt dabei mit seinem Popo die Zierdecke vom Couchtisch, stolpert über seine Hausschuhe die er immer noch nicht angezogen hat und mimt dabei einen schwer verletzten Fußballer, auf dem Boden liegend.
Ich beende das Telefonat mit meinem Vater und suche sofort die Regensachen heraus, damit der Kleine draußen spielen kann. Seine große Schwester zieht ein langes Gesicht. Weil es draußen regnet. Regensachen hin oder her.
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