Erhard Schümmelfeder - K E S S

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Wovon handeln die Geschichten dieses bunt schillernden Ebooks? – Ein verliebter Siebzehnjähriger bestiehlt seinen kranken Großvater. Ein junges Paar flieht vor seinen Vermietern. Zwölf übelgelaunte Leute treffen sich in einem kritischen Stuhlkreis. Ein Vater verfolgt den Freund seiner Tochter. Ein ahnungsloses Mädchen verliebt sich in einen zwielichtigen Mann. Ein diebischer Autor gerät während eines Amerikafluges in große Bedrängnis. Ein verzweifelter Schüler enttäuscht seine Lehrerin. Ein alter Mann belauscht durch die Zimmerwand seine neuen Nachbarn. – In 8 Geschichten beschreibt Erhard Schümmelfeder Menschen unserer Zeit in ausweglos erscheinenden Lebenssituationen. Immer müssen die «Helden» versuchen, die Widrigkeiten des irdischen Daseins zu überwinden. In einigen Texten gelingt es den Protagonisten in der Tat, ein schlimmes Ende in ein gutes Ende zu verwandeln. Um welche Erzählungen es sich handelt, soll hier noch nicht verraten werden. Angemerkt sei aber dies: Alle Geschichten dieser Sammlung haben die pralle Wirklichkeit eingefangen und garantieren dem interessierten Leser spannende und zugleich nachdenklich stimmende Einblicke in das menschliche Miteinander auf der wildbewegten Bühne des Lebens. – Wieder einmal heißt es: Vorhang auf! Film ab! Gute Unterhaltung wünscht E.S.

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Erhard Schümmelfeder

K E S S

Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis Titel Erhard Schümmelfeder K E S S Erzählungen Dieses ebook - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Erhard Schümmelfeder K E S S Erzählungen Dieses ebook wurde erstellt bei

K E S S

DIE ZWÖLF GESCHORENEN

MISTER MILLER IN AMERIKA

DIE BELAGERUNG

VORLESEN

DER FREUND MEINER TOCHTER

DÜNNE WÄNDE

AUF ZIMMERSUCHE

Impressum neobooks

K E S S

In unserer Nachbarschaft gab es früher einen Jungen namens Frantek, der vor anderen Kindern gegen Zahlung von zwei Groschen einer toten Maus den Kopf abbiss. Ein Jugendlicher, den alle Gonzo riefen, hatte sich bei einer Mutprobe zwischen den Gleisen auf dem nahegelegenen Bahndamm von einem herandonnernden Zug überrollen lassen. Als ich - kaum sieben Jahre alt - meinen Eltern hiervon erzählte, sah meine kopfschüttelnde Mutter sich bestätigt in der Absicht, bald schon die als Arme-Leute-Gegend bekannte Redingstraße für immer zu verlassen.

Wir zogen noch vor dem Winter in eine neue Wohnung am Galgenberg. Auch in dieser „besseren“ Gegend gab es Nachbarn, über die Mutter sich insgeheim erhaben dünkte. Mein Vater hingegen, von Natur aus gutmütig gestimmt, teilte selten ihre von tiefverwurzeltem Misstrauen geprägten Ansichten.

Bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr verlief mein Leben in „geordneten Bahnen“. Wie aber kam es, dass ich plötzlich, von einem Tag zum anderen, ins Straucheln geriet?

Ich erinnere mich:

Mein Vater, der Sylvia David anfangs nur zwischen Tür und Angel zu Gesicht bekam, wenn sie mich nachmittags besuchte, um mit mir Biologie, Englisch und Mathematik für die Schule zu üben, nannte sie ironisch Schneewittchen . Es war eine Anspielung auf ihr langes schwarzes Haar, das in Locken bis zur Mitte ihres Rückens hinunterwallte. Indessen zeigte Mutter sich meiner Schulkameradin gegenüber mit kühler Reserviertheit, weil sie eine Sitzenbleiberin war, die sich öfter mit alkoholisierten Jugendlichen bei den Spielhallen traf. Außerdem wohnte sie in der Redingstraße.

Nur einmal aß Sylvia mit mir und meinen Eltern zu Abend. Eine flackernde Kerze brannte auf dem gedeckten Tisch, als wir uns setzten. Es duftete nach frischem Krustenbrot und Kirschwein. Artig warteten wir auf meinen Vater, der noch rücklings unter der Spüle auf dem Fliesenboden lag und versuchte, im Schein seiner Taschenlampe die widerspenstige Schraube von einem alten Rohr zu lösen, um eine Gummidichtung zu wechseln.

„Du kannst doch später weiterarbeiten“, wandte sich Mutter ungeduldig an ihn.

Mein Vater, in handwerklichen Dingen ungeschickt, wollte zuvor den Zweikampf mit der Schraube gewinnen. Er setzte das gezackte Maul der Zange erneut an den Schraubenring und versuchte ihn zerrend loszudrehen. Der Versuch misslang. Wir hörten ihn verzweifelt schnaufen. Dann sammelte er alle Kräfte, packte fest zu und würgte an dem Ring, während sein Gesicht sich rot ver­färbte. Die Adern an seinem Hals traten hervor. Er zitterte vor Kraftanstrengung. Er gab nicht auf. Etwas in seinem Blick schien zu sagen: Einer von uns beiden - die Schraube oder ich.

„Darf ich helfen?“, richtete sich Sylvia an meinen Vater. „Ich kenne mich aus.“

Die erhobenen Arme meines Vaters bildeten ein Tor, durch das er keuchend zu uns herüberschaute. „Das hier ist harte Männerarbeit“, ließ er sich aus der Nische vernehmen. „Nichts für feine Damenhände. Ich rufe gleich den Klempner an.“

Sylvia stützte ihre Ellenbogen auf dem Tisch ab, faltete beide Hände vor dem Gesicht und legte ihr Kinn darauf. Es wirkte sehr vornehm. Dann sagte sie: „Ein Linksgewinde öffnet man, indem man es rechts herum dreht.“ Erklärend fügte sie hinzu: „Weiß ich von meinem Vater. Er war Klempner.“

Für gedehnte Sekunden herrschte peinliche Stille in unserer Küche. Dann vernahmen wir das befreiende Knirschen der festgerosteten Schraube am Rohr.

Nachdem mein Vater sich die Hände gewaschen hatte, setzte er sich zu uns. „Linksgewinde. Rechts herum. Sowas -“, murmelte er immer wieder und kratzte sich an seinem Haarkranz, während Mutter ihre Lippen uneinsichtig aufeinanderpresste.

Während des Essens beteiligte Sylvia sich flinkzüngig und witzig an unseren Gesprächen. Bei meinem Vater hatte sie einen Stein im Brett. Für ihn war sie seit dieser Begegnung Lady Madonna . Mutter hingegen hüllte sich zumeist in Schweigen. Nur einmal hörte ich später, wie sie Sylvia als kess bezeichnete.

An meinem Schreibtisch blätterte ich bald darauf im Wörterlexikon, um die Bedeutung dieses Begriffes zu ergründen. Aus der umfangreichen Liste der Erklärungen merkte ich mir: kess : vergnügt, vorlaut, frech, frivol.

Sylvias Erscheinung änderte sich mit ihrer modischen Kurzfrisur, als sie mit siebzehn im Sommer unsere Schule verließ und eine Lehre im Friseursalon Peters begann. Nur wenige sich kringelnde Haare in ihrem zarten Nacken erinnerten noch an die einstige Lockenpracht. Nun konnte man auch ihre silbernen Perlohrstecker sehen.

Während ich meinen Freundeskreis vernachlässigte, wurde Sylvia der Mittelpunkt meines Lebens. Bis in den Winter hinein gab es zwischen uns eine Vereinbarung: Fast jeden Abend, wenn der Salon in der Grubestraße geschlossen war, trafen wir uns in meinem Zimmer, um weiterhin Hausaufgaben zu machen. Zurückblickend sehe ich, in Gedanken versunken, wie sie den Schlüssel in der Tür mit einer schüchternen Bewegung ihrer linken Hand herumdrehte, über den weißen Teppich durch das Zimmer schritt und die orangenen Vorhänge am Fenster zuzog. In dem gedämpften Licht erkannte ich vom Bett aus nur noch ihre Silhouette.

„Mach die Augen zu.“

Aus einem Grund, über den sie sich nie äußerte, wollte sie nicht, dass ich ihr beim Ausziehen der Kleidung zusah.

Ich verschränkte meine Hände hinter dem Kopf, schloss die Augen und lauschte gespannt. Zuerst hörte ich - ritsch, ratsch - wie sie ihre Schuhe öffnete. Nach dem stumpfen Rauschen beim Abstreifen des Wollpullovers das leise Reißverschlussgeräusch an ihrer Jeans. Dann vernahm ich ein elektrisierendes Knistern und konnte es sogleich einordnen: Nylonstumpfhose.

„Blinzelst du?“

„Nein.“

BH und Höschen behielt sie an, als sie an der Musikanlage neben dem Kleiderschrank hantierte, eine Schallplatte auf den Drehteller legte und die Nadel des Tonarms vorsichtig aufsetzte. Sie wartete, bis aus den Lautsprechern an der Wand die neblig verschwommenen Synthesizer-Töne ihrer Lieblingsmusik erklangen: Visionary Mountains von Manfred Mann’s Earth Band. Erst als ich ihre nackten Beine unter der Bettdecke spürte, durfte ich meine Augen wieder öffnen.

Später fragte sie mich über meine Mitschüler aus und wollte Neuigkeiten über ihre alten Lehrer hören. Im Gegenzug erfuhr ich von dem gespannten Verhältnis zu ihrer Chefin. Über ihre Mutter, die in einer Möbelfabrik im Schichtdienst arbeitete, erzählte sie fast nichts. Ihr Stiefvater war oft wochenlang als Fernfahrer im Ausland unterwegs.

Ich zeigte ihr meine Landschaftsfotos. Sie liebte plakative Naturerscheinungen: Wildbewegte Wolkenszenarien, blutrote Abendhimmel und goldglühende Sonnen. Mein Lehrer, Herr Reichelt, bezeichnete Motive dieser Art als Caspar-David-Friedrich-Stimmungen . Für mich waren sie Sylvia-David-Himmel.

Bei jedem Besuch meiner Freundin signalisierten die Blicke meiner Mutter, wie sehr sie diese Beziehung missbilligte. Um Konflikten aus dem Wege zu gehen, traf ich mich schließlich mit Sylvia nur noch in der Wohnung ihrer Eltern. Von ihrem Zimmerfenster aus hatte man einen Blick über rote Häuserdächer und Kleingärten, hinter denen der Kirchturm unserer Stadt aufragte.

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