Ich zerriss den Brief und verbrannte die Fetzen. Aus. Vorbei.
Mein Großvater erholte sich physisch wieder. Seine Demenz aber verschlimmerte sich. Er bekam ein Zimmer im Erdgeschoss unseres Hauses. Bei den Umzugsarbeiten fanden meine Eltern vier Sparbücher und zwei Geldkassetten mit jeweils zweitausend Mark, die er an verschiedenen Stellen deponiert hatte, um für Notlagen des Lebens gewappnet zu sein. Das Fehlen des Geldes wurde nie bemerkt.
Aus meinem Freundeskreis erfuhr ich bald, dass Sylvia sich sehr rasch von Roger getrennt hatte. Nur wenige Male bekam ich sie in der Stadt zu Gesicht. Nie war sie allein. Immer sah ich Freundinnen, die ich nicht kannte, an ihrer Seite.
Ich nahm mir vor, sie anzurufen, konnte mich aber nicht dazu durchringen. Sie hatte sich von mir getrennt. War es nicht ihre Sache, ein Entgegenkommen zu signalisieren? Warum rief sie mich nicht an? Sollte ich ihr einen Brief schreiben? Aussprachen führen? Wogen glätten? Brücken bauen? -
Meine Eltern hielten sich in dieser Sache mit Kommentaren zurück. Was meine Mutter dachte und empfand, ließ sich leicht erahnen.
Wenn ich später mit Freunden abends durch die Redingstraße schlenderte, warf ich beim Haus mit der Nummer 26 immer einen Blick zum Fenster von Sylvias Zimmer. Das Herz wurde mir schwer, wenn ich dort das Licht brennen sah.
Der Klang ihrer Stimme. Die Farbe ihrer Augen. Das Schlagen ihres Herzens. Der … Die … Das… Ich war krank vor Sehnsucht nach ihr. Schließlich überwand ich meine Zurückhaltung. Mehrmals rief ich bei ihr zu Hause an. Aber nie wurde der Telefonhörer abgenommen.
Nach Wochen, in denen ich Sylvia nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte, fand ich Cold River auf dem Garderobenschrank in der Eingangsdiele unseres Hauses. Hatte sie das Buch bei meiner Mutter abgegeben? Steckte es vielleicht kommentarlos im Postkasten? - Ich hätte meine Mutter fragen können. Aber ich tat es nicht. Ein Zipfel meines Fotos zwischen den Seiten 134 und 135 lugte hervor. Die Rückgabe des Buches war für mich eine Botschaft mit eindeutiger Abschluss-Symbolik. Ich stellte es zurück an seinen Platz im Regal über meinem Schreibtisch.
Das Geld aus meinem Versteck gab ich Laufe der nächsten Zeit für sinnlose Anschaffungen aus.
Ich sah Sylvia nie wieder.
Nach dem Abitur verlief mein Leben unauffällig und geradlinig: Zivildienst, Studium, Beruf, Heirat, Kinder.
Im Frühling 1995, achtzehn Jahre nach unserer Trennung, als ich meine Bücher bei einem Umzug in einen Schrank einsortierte, fiel mir die Lieblingslektüre meiner Jugend wieder in die Hände: Cold River. Zwischen den Seiten lag noch immer das Lesezeichen. Erst als es zu Boden purzelte, bemerkte ich, dass das Foto nicht mich zeigte, sondern meine einstige Freundin am Ufer der Weser. Auf dem Bild war die Zeit stehen geblieben. Sylvia lächelte in die Kamera, während im Hintergrund Eisschollen auf dem Wasser in die Richtung der Brücke trieben. Auf der Rückseite, mit Bleistift notiert, stand ihre neue Adresse. Die Telefonnummer war mit einer roten Wellenlinie unterstrichen. Darunter hatte sie geschrieben:
Für meinen Till -
zur Erinnerung an unsere schöne Zeit.
Sylvia.
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