Nachdem der Trupp vorbeigezogen war nahmen die Soldaten ihre angestammten Positionen wieder ein. Jack und Noroi schauten den anderen Soldaten hinterher, bis die Dunkelheit sie verschlang.
Mit der linken Hand massierte Naomi ihre Stirn und überlegte, wie es jetzt weiter gehen sollte. Ihre Hoffnungen in der neuen Klasse akzeptiert zu werden waren ebenso gründlich zunichte gemacht worden wie in allen Klassenstufen zuvor. Misa und ihr Freund Goron waren zu beliebt und der Rest der Klasse schloss sich entweder ihrer Meinung an, oder hatte schon eine vorgefertigte Meinung über sie gehabt, die sie in ihrer Dummheit auch noch bestärkt hatte.
Also was tun? Naomi musste härter arbeiten, härter als alle anderen, um bei den Leistungen nicht zurückzufallen. Gruppenprojekte konnte sie wohl vergessen, aber das war schon sehr lange so. Und das wichtigste.
Sie durfte keine Schwäche zeigen. Egal wie sehr man ihr zusetzte, egal wie viele Beleidigungen sie ertragen musste, sie durfte sich davon nicht beindrucken lassen. Nach außen hin zumindest.
Wenn Naomi genug leistete würde, nein musste allen klar werden, dass sie nichts mit ihrer Mutter verband. Sie musste sich von ihrer radikalen Ader trennen, musste sich noch weiter abgrenzen. Denn nichts verband sie mit dieser Frau. Gar nichts.
Sie blickte auf die Uhr. Es war jetzt 11:34 Uhr, also hatte sie noch etwas weniger als eine Stunde bevor die Einheit angewandte Sicherheit bei F-Lieutanant Sargei beginnen sollte. Naomi verließ das Gebäude der vierten Sekundarstufe und schritt zielstrebig auf einen Waldabschnitt auf dem Campus Gelände zu. Dieser Wald stellte ein Teil der Erholungsmöglichkeiten für Studenten dar und Naomi hatte vor zwei Jahren darin eine Lichtung gefunden, die schön abgelegen war. Dort konnte sie alleine ihre Mittagspause verbringen, ohne von irgendwem gestört zu werden. Mehrere Minuten strich sie durch den Wald, bevor sie ihre Lichtung erreichte. Sie war klein, kaum ein paar Quadratmeter groß, aber in ihrem Zentrum lag ein großer, runder Fels, gerade groß genug, um sich darauf zu legen. Naomi vermutete, dass dieser Stein noch von der alten Erde stammte und von den Konstrukteuren des Schiffs hier platziert worden war, auch wenn sie es nicht mit Sicherheit sagen konnte. Naomi streckte sich, so gut es ging, auf dem Stein aus und starrte in Richtung Decke. Von der leuchteten die gigantischen Tageslichtstrahler herab und verhinderten beinah die Sicht auf die stählerne Oberfläche, auf der sie montiert waren. Naomi zupfte eine Handvoll Gras aus und zerrieb es langsam zwischen ihren Fingern, während ihre Gedanken zur Ruhe kamen. Hier war einer der wenigen Orte, an denen Naomi aufhören konnte zu überlegen, wie andere über sie dachten. Hier war nur sie, der umliegende Wald und ihr Atem. Langsam entspannten sich auch ihre Muskeln und so glitt sie in einen Zustand des Befreit-seins, in dem nichts sie stören konnte.
Einige Zeit später erklang ein dumpfer Glockenschlag über das Campus-Gelände und rief alle darauf verteilten Studenten zur nächsten Unterrichtseinheit, die in zehn Minuten beginnen würde. Naomi erhob sich und ging mit beschleunigtem Schritt zurück zu ihrem Unterrichtsgebäude. Sie eilte zu ihrem Spind und holte sich ihre dort deponierten Sportsachen. In der Umkleidekabine angekommen bemerkte sie, dass sie wohl eine der letzten war. Der Raum war gefüllt mit Studentinnen der vierten Sekundarstufe. Naomi nahm an, dass Aufgrund der Anzahl diese Unterrichtseinheit von zwei Kursen zur selben Zeit absolviert wurde. Die Mädchen waren damit beschäftigt zu quatschen und sich umzuziehen, wodurch es Naomi gelang unbemerkt in eine Ecke zu gelangen.
Dort streifte sie zügig das Trauerkleid ab, stets darauf bedacht ihren Rücken von allen anderen abgewandt zu halten. Nachdem sie mit dem Umziehen fertig war reihte sie sich ein und verließ gemeinsam mit den anderen die Kabine. Sie traten in einen der Gebäudeinternen Sportsäle, der genug Platz für 100 Studenten bot. Dort standen bereits Reihe um Reihe Jungen und Mädchen aufgereiht und warteten auf den Unterrichtsbeginn. Anscheinend legte F-Lieutanant Sargei mehr Wert auf militärischen Drill als ihre letzte Dozentin in einem Sportfach. Naomi war es recht so, Disziplin würde auch verhindern, dass andere ihr während der Unterrichtseinheit Probleme machten.
Sie stellte sie neben einen Jungen, der offenkundig nicht aus ihrem Kurs war, denn er lächelte sie kurz an, bevor er wieder starr geradeaus starrte. Zwei Reihen weiter vorne konnte sie Misa und Goron erkennen, ebenfalls still dastehend.
Die Minuten vergingen und als F-Lieutanant Sargei nicht kam, raunten sich einige der Studenten Fragen zu und standen bequemer. Naomi warf einen Blick über den Rücken und sah, dass hinter ihr nochmal zwei Reihen mit jeweils zehn Studenten standen. Daraus schloss sie, dass der andere Kurs wohl kleiner sein musste als ihrer, aber ob das von Bedeutung war, wagte sie zu bezweifeln. Weitere Minuten verstrichen und das Gerede der Studenten wurde zunehmend lauter. Einige forderten die Kurssprecher dazu auf, etwas zu unternehmen, andere freuten sich über ein früheres Schulende, bevor eine rauchige Stimme sie alle übertönte.
„Stillgestanden. Alle Augen zu mir.“ Die Stimme war befehlsgewohnt und sorgte binnen eines Augenblickes dafür, dass es still wurde. Alle Studenten strafften die Schultern und standen gerade, als F-Lieutanant Sargei den Raum auf der Frontseite betrat. Ihre schwarzen Stiefel hallten durch den Raum, als sie mit gemessenem Schritt an den Personen in der ersten Reihe vorbeischritt. Der dunkelrote, beinah ins schwarz übergehende, Stoff ihrer Uniform wallte von ihrem Körper, der kein Zweifel daran ließ, dass diese Frau sich ihr Leben lang gestählt hatte. Schließlich blieb sie mittig zu ihnen stehen und musterte sie einen Moment aus ihren kühlen, braunen Augen. Naomi kam nicht umhin zu bemerken, dass sie in diesem Augenblick wenig mit der freundlich wirkenden Frau aus ihrem Profilfoto zu tun hatte. Aber bevor sie diesen Gedanken weiter verfolgen konnte begann F-Lieutanant Sargei zu sprechen.
„So ist das also. Sie wollen also Nachwuchskräfte für den Sicherheitsdienst sein? Es trennen Sie nur noch zwei Jahre bevor sie in den Dienst entlassen werden. Zwei Jahre in denen sich zeigen soll, ob sie dazu taugen potenzielle Unruhen niederzuschlagen, dem Gesetz seine Geltung zu verschaffen, oder auch unsere Politiker zu schützen. Und weniger als ein halbes Jahr bevor Sie sich entscheiden müssen. Für die Bequemlichkeit der Exploration, dem Eifer der inneren Sicherheit oder dem Abenteuer der SCS. In dieser Zeit bis dahin werden wir sehen, ob Sie etwas taugen. Oder es zeigt sich, dass sie nichts davon gewachsen sind und aus dieser Ausbildung entfernt werden müssen.“
Sargei kam auf die Studenten zu, und wie man es ihnen gelehrt hatte bildeten sie Zwei Blöcke, sodass ein Gang für den F-Lieutanant in ihrer Mitte frei wurde. Alle Augen waren nun auf die unter ihnen wandelnde Offizierin gerichtet.
„Ich habe mich gefragt, was mich erwarten würde, bevor ich diesen Raum betrat. Würden sie still auf meine Ankunft warten und damit zeigen, dass sie zu nichts anderem taugen als treudoofem Kanonenfutter? Oder würden sie die Disziplin ganz ablegen und gehen, in der Annahme es würde niemand mehr kommen. Nun ich schätze mal einige von Ihnen waren kurz davor.“
Sargei musterte die Studenten kritisch, „Aber ich stelle mir die Frage, ob jemand weiß was zu tun gewesen wäre?“ Sie blieb vor einem Mädchen mit türkisem Haar und einem grünen Shirt stehen. „Können Sie es mir sagen?“ Kleinlaut kam „Nein“ als Antwort. „Wie bitte? Reden sie verständlich, Rekrut.“ „Sir, Nein, Sir.“, kam es deutlich lauter.
F-Lieutanant Sargei trat wieder vor die Studenten, die ihre Reihen schlossen und nun alle nach vorne gerichtet auf die Antwort warteten. „Ich sage Ihnen was ein verantwortungsvoller Rekrut hätte tun sollen. Merken Sie sich dies und denken daran, wenn es wieder zu einer solchen Situation kommt. Also merken Sie sich, im Falle einer Krise und sei es auch nur die Abwesenheit eines Führungsoffiziers ist eine Truppe die dumpf darauf wartet, dass jener Offizier noch eintrifft ebenso verloren wie die Truppe, die sich in Panik auflöst. Die Truppe, die gewinnt bestimmt einen Übergangsoffizier, der in ihrem Namen die Befehle erteilt, was auf Sie angewendet bedeutet, warum hat niemand die Aufgabe übernommen das Aufwärmtraining zu leiten? Sie sind alt genug, um zu wissen was getan werden muss. Um sie daran zu erinnern beginnen wir mit einem 20 Kilometer Rundlauf. Los geht’s.“ Und alle rannten los.
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