Es war, als wäre ein Damm der alten Erde gebrochen, hätte den Fluten der alten Meere nachgegeben. Vor ihr lag ihre kleine Schwester, Mika. Sie hatte Mika seit der Explosion nicht mehr gesehen. Die alte Frau hatte Naomi mitgeschleift, aber Mika konnte nicht so schnell laufen. Naomi konnte nur Ausschnitte von Mika’s Gesicht sehen, der größte Teil ihres Körpers war in Plastikschalen oder in Bandagen eingewickelt. Sie musste schwer verletzt sein.
„Mika.“, flüsterte Naomi. „Mika. Bist du wach?“ Sie lauschte. Ganz leise konnte sie das Atmen ihrer Schwester hören. Sie wollte ihre Hand ausstrecken, aber die kleinste Bewegung tat weh. „Mika.“, flüsterte sie nochmal. Sie musste mit ihr reden. Musste mit ihr über die letzten zwei Tage sprechen. Also redete sie. Sie hatte mal gehört, dass Bewusstlose unterbewusst wahrnahmen was mit ihnen besprochen wurde. „Mika. Ich weiß nicht, ob du dich an alles erinnerst. Papa ist tot. Und Mama … Mama“, sie stocke. Nein sie konnte nicht darüber reden. Also versuchte sie das Thema zu umgehen. Sie redete und redete, bis ihr Mund ganz fusselig war. Dann schwieg sie, wartete auf eine Reaktion. Als keine kam wurde sie wütend. „Mika! Sag was! Rede mit mir!“ Sie beschimpfte ihre Schwester, weinte, flüsterte, flehte. Aber Mika reagierte nicht.
Schließlich schwieg Naomi. Ihr Blick war auf die Wand hinter Mika gerichtet, sie strafte sie mit Nichtbeachtung. Auf dem dort angebrachten Display leuchtete eine gezackte Linie.
Das musste der Puls von Mika sein. Er ging auf und ab, auf und ab und auf und ab. Im Stillen starrte Naomi das Display an. Auf und ab. Was sollte jetzt aus ihnen werden? Auf und ab. Sie hatten keine Verwandten mehr, nur Ari. Auf und ab. Was war mit Ari? Sie musste schreckliche Angst haben. Auf und ab. War sie daheim in der Wohnung, ganz allein? Nein, sie war viel zu jung. Sie musste bei einer Freundin sein. Auf und ab. Könnten sie alle zu Freundinnen? Sie könnten bestimmt bei Misa einziehen. Misa war Naomis beste Freundin. Sie würden alle bei ihr wohnen können. Auf und ab. Aber Papa war nicht mehr da. Papa war weg. Für immer. Auf und ab. Und Mama? Mama war auch weg, entschied Naomi. Ab und ab. Sie weigerte sich weiter über Mama nachzudenken. Wie hatte sie das nur tun können? Ab und gerade. Misas Familie würde sich um Naomi und ihre Schwestern kümmern. Misa war ihre beste Freundin. Ganz bestimmt.
Gerade. Gerade?
Die rote Linie war gerade. Sie lag bei 0.
„Mika!“ Panik durchströmte Naomi. „Mika. Jetzt sag was! Mach mir keine Angst!“ Sie horchte. Sie hörte … nichts. Nichts. Mika atmete nicht mehr. „Mika!“, kreischte sie. „Wach auf!“ Wo waren die Ärzte? In den Filmen kam in so einen Fall immer jemand herbeigeeilt und rettete den Patienten. Aber es kam niemand. „Hallo?“, schrie sie. „Ist hier jemand?! Mika braucht Hilfe!“
Sie erwartete eilige Schritte zu hören, ein Aufstoßen der Tür, aber es kam nichts. „Hilfe! Kommt doch. Schnell!“ Sie schrie so laut sie konnte, aber niemand reagierte. Sie musste etwas tun, Hilfe holen. Aber dafür musste sie aufstehen. Naomi versuchte sich aufzurappeln. Ein unvorstellbarer Schmerz durchfuhr sie. Ihr Rücken brannte, als ob in der offenen Wunde noch immer Splitter stecken würden. Wahrscheinlich waren einige der provisorischen Nähte gerissen. Naomi spürte, wie warmes Blut ihren Rücken hinabfloss. Aber sie kümmerte sich nicht darum und schrie wieder „Hilfe. Bitte. Irgendwer?“
Sie kam nicht hoch, also wuchtete sie ihren Körper zur Seite und landete schwer auf ihrem Gesicht. Der Aufprall durchzuckte ihren ganzen Körper, betäubte ihre Gelenke und hinterließ ein dumpfes Pochen. Tränen rannen ihr übers Gesicht, aber sie hatte keine Zeit sich darum zu kümmern. Wo waren die Ärzte? Wo das ganze medizinische Personal? „Hilfe. Meine Schwester braucht Hilfe“, ihre Stimme erstickte. Sie musste weiter. Unter lautem Stöhnen stützte sie sich auf ihre Ellbogen und kroch in Richtung Tür. Sie sah auf das Display hinter Mika‘s Bett, es blinkte immer noch rot. Vor Verzweiflung überschlug sich ihre Stimme. „Hilfe! Kommt doch irgendwer.“
Sie war an der Tür. Glücklicherweise ließ sie sich in beide Richtungen aufschieben. Mühsam robbte sie ein Stück vorwärts und lag jetzt zum Teil im Flur des Krankenhauses. Niemand reagierte auf ihre Rufe. Wo musste sie hin? Gehetzt blickte sie den Gang erst links und dann rechts hinunter. Es sah gleich aus. Wo konnte sie Ärzte finden? Sie holte nochmal tief Luft und schrie aus voller Kehle. „Meine Schwester braucht Hilfe!“ Schwer atmend wartete sie, aber keine der Türen, die den Gang säumten, öffnete sich. Aus keiner kamen Ärzte gerannt, um Mika zu helfen. Sie entschied sich für den linken Weg. Das Kriechen fiel ihr zunehmend schwerer, aber sie schrie so oft sie konnte. Sie kam zwei Türen weit, bevor sie es hörte. Endlich hörte sie jemand anderen als sich selbst. Sie hörte Schritte.
Sie drehte den Kopf und sah 2 Männer in weißen Kitteln auf sie zu rennen. „Kind. Was machst du denn da?“, schrie der eine sie an. „Bitte. Bitte helfen Sie meiner Schwester.“ Waren es Tränen der Erleichterung, die jetzt über ihre Wangen rollten? Jetzt würde alles gut werden. Sie sah, wie der eine Mann das Zimmer betrat, aus dem sie gerade gekrochen war. Der andere kam zu ihr und beugte sich zu ihr runter. „Alles wird gut, Kind. Ich bin Dexter. Ich helfe dir, währen Boil deiner“, mitten im Satz wurde er unterbrochen. „Dexter. Komm sofort her. Wir müssen sie in den OP bringen. Schnell.“ Bevor Naomi die Worte auch nur verarbeiten konnte richtete sich der freundlich lächelnde Mann auf und folgte seinem Kollegen.
Wenige Sekunden später kamen sie wieder heraus. Sie schoben Mikas Bett mit sich und sprinteten dahin, von wo sie gekommen waren. Sie ließen Naomi zurück.
Langsam verarbeitete sie die letzten Sekunden. Stück für Stück setzte sie die Bruchstücke zusammen und folgerte was das für sie bedeutete. Es war etwas Ernstes. Sie hatten Mika mitgenommen. Sie wollten ihr helfen. Sie wollten zum OP. Also musste sie auch dahin. Sie musste jetzt aufstehen, sonst würde sie die Ärzte nie einholen. Nachdem sie zu diesem Schluss gekommen war durchfuhr neue Kraft ihren Körper. Mit einem lauten Aufstöhnen kam sie auf die Knie und Hände und richtete sich mit einer unmenschlichen Kraftanstrengung schließlich auf die Beine auf. Sie spürte, wie dieser Akt noch mehr der Nähte platzen ließ, sie ignorierte den Schmerz und tat den ersten Schritt. Sie kam zwei Schritte weit, bevor ihr schwarz vor Augen wurde und sie zu Boden sackte.
Der Aufprall riss Naomi aus dieser schrecklichen Erinnerung. Schwer atmend zuckte sie hoch und sah sich desorientiert um. Das Zimmer sah aus wie jedes Krankenzimmer der Last Hope, steril und weiß. Aber es war nicht Mikas Zimmer. Hier lag Ari vor ihr. Zwar schwer verletzt, genau wie Mika, aber Ari würde leben. Anders als Mika würde Ari dieses Bett verlassen. Naomi würde nicht zulassen, dass auch das letzte Teil ihrer Familie sie verließ. Nie wieder würde sie sich so hilflos fühlen wie an jenem Morgen, als sie nach Mika fragte und sie tot war. Nie wieder.
Aber sie hatte Angst. Angst einzuschlafen und zu merken, dass Ari gestorben war, also stand sie auf und begann zu laufen. Solange sie sich bewegte konnte sie nicht schlafen und solange sie nicht schlief konnte sie sehen, dass Ari lebte. Also ging sie, sie ging, bis ihre Beine schmerzten und sie nur noch langsam vor sich hin trottete. Irgendwann klopfte jemand an die Tür und Naomi sprang erschrocken zurück, als diese sich öffnete. Eine Frau in weißen Kittel kam herein, gefolgt von einem Assistenten. Die Frau streckte ihr die Hand entgegen. „Miss Orinama, ich bin Doktor Jenn und das ist mein Assistent, Herr Kal. Ich möchte nach Ihrer Schwester sehen und sie sollten sich ausruhen und etwas schlafen.“ „Aber ich kann nicht weg, Doktor. Bitte, lassen Sie mich bleiben.“ Die Frau musterte stirnrunzelnd die tiefen Ringe unter Naomis Augen, ihren entschlossenen Blick und seufzte dann. „Nils, bringst du bitte noch ein Bett hierher.“ „Danke, Sie wissen gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“ Die Frau nickte und verwies Naomi auf ein angrenzendes Bad. „Während ich ihre Schwester untersuche können sie sich dort umziehen. Klamotten sollten dort in allen Größen ausliegen.“
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