Ein trauriges Lächeln huschte über seine markanten Züge. „So Miss Orinama. Sie wollten jetzt bestimmt zu Ihrer Schwester.“ „Ja, bitte.“, ihre Stimme zitterte. „Da ich Sie wohl nicht daran hindern kann, folgen Sie mir bitte.“ Er ging zu der Tür, legte seine Hand auf einen Scanner. Naomi hielt sich nicht mit einem Blick durch das Fenster auf, sondern folgte dem Arzt mit langen Schritten in das Zimmer. Der Raum war kahl, steril und wirkte geradezu abweisend auf sie. Naomi mochte Krankenhäuser nicht, nicht seit Mika. Nein, daran durfte sie nicht denken. Ari würde leben. Doktor Korjing hatte gesagt, dass sie genesen würde. Neben dem Bett an der Wand standen zwei Stühle, sowie einige medizinische Geräte, deren Einsatzzweck sie nicht kannte. Das Bett war weiß, das Laken, das Gestell, alles.
Und in diesem strahlenden weiß ergoss sich das Schwarz von Aris Haaren. Sie lag auf der Seite, die Haare unter ihrem Kopf vor die Brust gelegt. Naomi blickte auf ihre Schwester hinab. Das rechte Auge war blau, geschwollen und mit einem grünen Salbe bestrichen. Ein langer Kratzer zog sich von ihrem linken Wangenknochen bis zum Mund, dessen Lippen aufgeplatzt waren. Naomi bemerkte die Reste von schwarzer Farbe an Aris Wangen, aber sie konnte nicht mehr lesen was dort geschrieben worden war. Ein blauer Kittel verdeckte Aris restlichen Körper, aber als Naomi um ihre Schwester herum ging, lief ihr ein Schaudern durch den ganzen Körper, erfasste jedes ihrer Haare und stellte es vor Wut, Angst und Verzweiflung auf.
Aris Rücken lag frei und darauf zu sehen waren unzählige Striemen, die wirkten als wäre die Haut unter harten Schlägen aufgeplatzt und immer weiter malträtiert worden. Die losen Hautfetzten waren entfernt und eine milchig weiße Creme war auf die Wunden geschirrt worden, aber Naomi konnte trotzdem sehen, wie tief diese Wunden waren. Wie konnte irgendjemand das einer anderen Person antun, fragte sie sich unwillkürlich. Ari war so klein, so zerbrechlich, warum hatte jemand das getan. Doktor Korjing musterte sie schweigend, während Tränen Naomis Augen benetzten und ihr langsam die Wangen herabströmten.
Nach einigen Minuten fasste Naomi sich soweit, um zu fragen. „Doktor, können Sie mir sagen, können sie mir erklären welche Verletzungen sie hat.“ Er musterte sie zweifelnd, aber sie musste es wissen. Musste wissen, was Ari angetan worden war, um es in ihr Gedächtnis einzubrennen und nie mehr zu vergessen. „Bitte.“, fügte sie nach einigen Sekunden zu.
Einen Moment lang zögerte er noch, dann seufzte er und hier sie auf einem der Stühle Platz zu nehmen. Dann aktivierte er ein Display an der Wand und rief eine Fotoreihe auf, die die Ärzte während der Behandlung geschossen haben mussten.
Das erste Foto zeigte Aris Auge, ohne die Salbe. Es war scheußlich deformiert, durch die einsetzende Schwellung und Naomi erkannte etwas, wie Metallsplitter um das Auge herum. Der Doktor gab einige erklärende Worte ab und wies daraufhin, dass sie Partikel aus dem Auge auswaschen mussten. Ob es zu längerfristigen Schäden gekommen war, würde sich in Zukunft zeigen.
Das nächste Foto zeigte Aris Beine. Das linke war verdreht und Naomi konnte ohne Erklärung erkennen, dass es mehrmals gebrochen war. „Es wird seine Zeit dauern, aber wir konnten alle Knochen wieder an ihren Platz bringen. Voraussichtlich wird ihre Schwester keine Einschränkung in der Gehfähigkeit behalten.“
Eine Aufnahme von Aris Bauch folgte. Naomi erkannte die Anzeichen, dass Ari verprügelt worden war. Mehrfach, wie es den Anschein hatte.
Und auf diese Weise folgte eine Bildreihe auf die nächste. Begleitet von den ruhigen Kommentaren des Doktors, der über mögliche Ursachen der Veilchen, Prellungen, Schürfwunden und aller anderer Verletzungen spekulierte, Naomi einen Abriss über die Schwere der Wunde und die Heildauer gab.
Die letzten Fotos zeigten Momentaufnahmen von Aris Rücken. Auf dem ersten Bild waren die Wunden mit Erde verklebt, Hautfetzten hingen lose herab. „Wir gehen davon aus, dass diese Verwundungen gegen Mitternacht entstanden sind. Da sie auf einer Lichtung gefunden wurde, überrascht es nicht das Erde sich festsetzte. Wir haben die Wunden gereinigt, desinfiziert und mit einer heilenden Creme bestrichen. Wir können noch nicht sagen, wie gut der Rücken heilen wird. Aber es wird auf jeden Fall zu großflächiger Narbenbildung kommen.“ Ein Zucken fuhr durch Naomis eigene Narbe am Rücken. Aber sie hatte nur eine, wohl hässlich, breit und verquer, aber eben nur eine. Bei Ari würde ihr gesamter Rücken von Narben bedeckt sein.
„Wie lange wird es dauern, bis sie wieder gesund wird?“, fragte sie zögernd. „Bis alles verheilt ist, meinen Sie? Nun, das ist schwierig zu sagen. Wir haben ihre Schwester während der Operation in ein künstliches Koma versetzt, das wird gleichzeitig den Heilungsprozess beschleunigen und unterstützen. Wir schätzen, dass wir sie in 5 bis 6 Tagen wecken können und unserer Erfahrung nach gehen wir davon aus, dass Ihre Schwester nur die nächste Woche verpassen wird und bereits übernächsten Montag wieder zur Schule gehen kann.“
Es kümmerte Naomi nicht, wie lange es dauerte, bis Ari wieder in die Schule konnte, sie wollte nur, dass sie so schnell wie möglich gesund wurde. Aber natürlich war es gut, dass Ari wenig Unterricht verpasste. Die Anzahl der Fehltage war ein Bestandteil der Gesamtbenotung nach der Primärstufe, auch wenn sie durch äußerliche Umstände einhergingen. „Kann ich, kann ich hier bei ihr bleiben.“ „Natürlich können Sie ihre Schwester besuchen, aber achten sie darauf auch genug Zeit für sich einzuplanen. Es ist nicht hilfreich, wenn Sie sich aufarbeiten und ihre gesamte Zeit am Krankenbett verbringen. Sie sollten sich mit anderen umgeben, zu mindestens für einige Stunden, um sich abzulenken.“
Er lächelte sie freundlich an, während Naomi überlegte, ob sie ihm erzählen sollte, dass sie niemanden außer Ari hatte. Niemanden der sie trösten, ablenken konnte. Aber sie entschied sich dagegen und brachte ein winziges Lächeln zustande. „Ja, Doktor.“ Er nickte und ließ sie dann alleine am Krankenbett ihrer Schwester. Sie betrachtete den kleinen, an Schläuche und Geräte angeschlossenen Körper und hoffte, dass alles gut werden würde. Liebevoll strich sie Ari über die Wange, spürte ihre Wärme, tröstete sich mit dem Gefühl des Lebens, das sie bedeutete.
Zwischenspiel: Vertuschung
Ein leises Stöhnen entfuhr Walter Pillert. Was er jetzt brauchte war ein Kaffee. Ein starker Kaffee. Normalerweise hätte er vor 10 Minuten nach Hause gehen können, aber das war ihm gründlich verdorben worden. Mit der einen Hand nestelte er am Kaffeeautomat herum, während er mit der anderen die Müdigkeit aus seinen Augen verscheuchte.
Während die Tasse sich füllte ging er das bevorstehende Meeting nochmal im Kopf durch. Wer würde kommen? Die zwei ermittelnden Beamten, Mahrai und Shun, dann noch Ein Kollege aus dem Call-Center, Werel, außerdem noch ein Forensiker der die Spuren am Tatort aufgenommen hatte und er, Walter Pillert, F-Admiral der Inneren Sicherheit.
Als ranghöchster anwesender Offizier fiel es in seine Zuständigkeit auf den Vorfall eine angemessene Reaktion zu geben. Kaffeearoma erfüllte den Raum. Allein der Geruch besserte seine Laune ein wenig. Einen Schluck später fühlte er sich schon fast wieder wach. Er strich sich die Uniform glatt und betrat den angrenzenden Konferenzraum. Die Anwesenden standen alle und unterhielten sich.
Mit Ankunft der schlanken Gestalt Pillerts verstummten allerdings alle Gespräche und die Anwesenden legten ihre rechte Hand zum Salut auf die linke Schulter, während die andere hinter dem Rücken verschränkt wurde. Pillert ging gemächlich zu seinem Platz an der Stirnseite des langen Tisches. Dabei schweifte er mit seinem Blick alle Umstehenden, betrachtete ihre Gesichter eingehend und ordnete ihnen die passenden Namen zu. Als er seinen Stuhl an der Stirnseite des Tisches erreichte verharrte er noch einen Moment, bevor er sich bedächtig niederließ.
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