Als sie beide fertig waren und sie immer noch atemlos in seinem Arm lag, überlegte Lucy, was sie zu Alexander sagen konnte. Wie sie ihren erneuten sinnlichen Überfall erklären konnte. Nichts wollte ihr einfallen. Außer: Du gefällst mir und ich wollte einmal in die Rolle des rücksichtslosen Verführers schlüpfen, um mich abzuhärten. Oder Worte wie: Es tut mir leid, dass ich dich einfach so benützt habe. Ich soll bald irgendjemanden heiraten und ich habe Angst ...
Es war einfach zu verwirrend und ein Teil von Lucy schämte sich für ihr Verhalten, wie auch für ihre Gedanken. Niemand außer Alexander und ihrem damaligen Verlobten wusste, dass sie keine Jungfrau mehr war. Würde ihr zukünftiger Ehemann es herausfinden? Würde er es bemerken und sie trotzdem zur Frau nehmen? Lucy wusste es nicht und konnte niemanden um Rat fragen, außer vielleicht Alex…
Lucy sprang auf und wollte gehen, hielt aber kurz inne, um Alexander noch etwas zu sagen. Aber was? Im Dunkeln konnte sie seine wundervollen, leuchtenden Augen erahnen, die sie erwartungsvoll und etwas entgeistert anstarrten. Da ihr aber nichts über die Lippen kommen wollte, drehte sie sich rasch um und floh.
Draußen auf dem Gang hielt Lucy in einer Nische inne und ordnete ihr Kleid und ihre Frisur, so gut es eben ging. Sie fragte sich, wie - um Himmels willen - sie schon wieder so weit gehen hatte können? Wieso fiel es ihr so leicht, sich mit Alexander auf diese Weise einzulassen? Wieso machte er es ihr so leicht?
Und vor allem, wie sollte das weiter gehen? Wäre der Duke ein Mann zum Heiraten? Darüber hatte sie bislang noch gar nicht nachgedacht. Wollte er denn überhaupt heiraten? War er bereits jemand anderem versprochen?
Würde er sie - eine offenbar in Ungnade gefallene junge Frau - überhaupt in Erwägung ziehen? Gleich würde er ebenfalls den Raum verlassen und ihr wieder begegnen. Kurzerhand beschloss Lucy, die Treppe hinauf und in die Privaträume ihrer Freundin Clarissa zu fliehen, bis sie wieder klar denken konnte. Also lief sie rasch die Stufen hinauf in den ersten Stock.
Als Lucy später neu geordnet und wieder einigermaßen gefasst zurück in den Ballsaal kam, war Alexander nicht mehr da. Enttäuschung machte sich in ihr breit.
Eine Woche später fand der Ball ihrer Eltern in ihrem eigenen Zuhause statt. Lucy war sehr aufgeregt und wurde wenige Stunden davor von ihrem Vater noch einmal daran erinnert, tunlichst Ausschau nach einem geeigneten Ehemann zu halten. In zwei Monaten würde sie bereits vierundzwanzig Jahre alt werden, und danach bliebe ihr nicht mehr allzu viel Zeit, um ihr Erbe zu sichern.
Als ihr Vater Lucys Zimmer wieder verlassen hatte, war sie wütend und trommelte mit den Fäusten auf ihr Kissen ein. Ihre Wut verwandelte sich in Verzweiflung und Traurigkeit und Lucy ließ ihren Tränen freien Lauf. So saß sie eine Weile da und schluchzte in ihr Kissen. Was war das für eine Wahl? Entweder ihren Körper und ihre Seele an einen rücksichtslosen Mann zu verschenken oder ein Leben in ärmeren Verhältnissen zu wählen und lediglich die Zofe oder Gesellschafterin von irgendjemandem zu werden. Denn ohne angemessene Mitgift würde sie später sicherlich keinen passablen Ehemann mehr finden können. Und aus Liebe heiraten? Wer heiratete schon aus Liebe? Wer würde sie nur aus Liebe heiraten?
Erneut vergrub Lucy ihr Gesicht in ihrem Kissen und versuchte, sich zu beruhigen. Als es ihr schließlich gelungen war, stand sie auf und setzte die Vorbereitungen für die heutige Ballnacht fort.
Nun kam auch ihre Zofe Bella ins Zimmer und begann, sie für den Ball fertigzumachen. Die Zofe wählte ein wunderschönes, aber schlichtes, hellblaues Seidenkleid mit zierlichen weiß-blauen Stickereien an Saum und Mieder für Lucy aus. Sie würde darin himmlisch aussehen und ihre schönen blauen Augen kämen dadurch besonders gut zur Geltung. Lucy ließ es geschehen, ebenso wie eine wunderschöne, prachtvolle Hochsteckfrisur. Dazu trug sie eine zarte Kette mit einem winzigen, glitzernden Diamanten in einer Fassung in Tropfenform. Wie passend - dachte sich Lucy - angesichts ihrer kürzlich vergossenen Tränen.
Als sie endlich fertig war, machte sie sich etwas widerwillig auf den Weg zum Ballsaal. Doch plötzlich verspürte sie eine unerwartete Vorfreude. Lucy vernahm ein freudiges Kribbeln in ihrem Bauch, wenn sie daran dachte, in Kürze vielleicht Alexander Spencer gegenüber zu stehen. Einerseits fühlte sie zwar ein Gefühl der Glückseligkeit, andererseits bekam sie furchtbare Angst davor, denn es würde auch bedeuten, wieder enttäuscht werden zu können.
Das gute Gefühl siegte für den Moment, als sie Alexander, den Duke of Kintbury, am Eingang zum Ballsaal stehen sah. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus und sie konnte gar nicht mehr denken. Grazil ging sie an ihm vorbei - ohne ihn anzusehen, sich seiner Gegenwart aber sehr intensiv bewusst. Auch er hatte sie bemerkt, denn sie spürte seinen Blick warm und versengend in ihrem Rücken.
Eine Weile später kam Alexander auf sie zu und bat sie um einen Tanz. Er blickte sie ernst, aber freundlich an. Da Lucy gerade mit ein paar Freundinnen zusammenstand und plauderte, hatte er keine Gelegenheit, ein intimeres, womöglich verräterisches Gespräch mit ihr zu beginnen und ging weiter seiner Wege.
Sie begegneten sich erst wieder für ihren gemeinsamen Walzer, den sie wortlos zu tanzen begannen. Wie gerne hätte Lucy etwas zu Alexander gesagt. Schön dich wiederzusehen, ich denke viel zu oft an dich. Es tut mir sehr leid, dass ich dich einfach, ohne ein Wort zu sagen, verführt habe. Kannst du mir verzeihen? Magst du mich? Was denkst du?
Sie konnte aber nichts dergleichen sagen. Also kam ihr gar nichts über die Lippen. Über das Wetter oder die stickige Luft im Ballsaal zu sprechen, erschien ihr ebenso unsinnig.
Auch Alexander sagte kein Wort. Zweimal versuchte er, Blickkontakt herzustellen, Lucy wich aber aus, um nicht in die Verlegenheit eines klärenden Gesprächs zu geraten. Wie verrückt das war. Zwei Menschen, die bereits zum wiederholten Male miteinander intim gewesen waren, aber nicht miteinander sprechen konnten. Lucy hatte einfach zu viel Angst. Zuviel Angst davor, wieder enttäuscht und abgewiesen zu werden, und der Wahrheit und den Konsequenzen ihres Handelns ins Gesicht blicken zu müssen.
Der Walzer endete und Lucy bekam Panik. Also tat sie, was sie inzwischen am besten konnte. Sie packte Alexander am Arm und zog ihn mit sich aus dem Ballsaal und ziemlich unüberlegt, aber sehr entschlossen hinauf in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür hinter ihnen ab, wunderte sich kurz, dass Alexander keine Einsprüche erhob, und stürzte sich wieder auf ihn.
5. Kapitel
Zurück in der Gegenwart
Alex hatte noch immer ihren Geruch in der Nase, obwohl das alles doch wieder recht unpersönlich war. Er hätte sie auch gerne noch länger im Arm gehalten und getröstet. Oder sie beschützt vor dem, was auch immer ihr Angst machte oder wovor sie auf der Flucht war. Denn so erschien es ihm.
Machte sie sich keine Sorgen um ihren Ruf? Er konnte nur hoffen, dass ihn niemand aus ihrem Zimmer kommen sehen hatte. Oder sonst irgendetwas bemerkt hatte. Der Vorteil an den Londoner Bällen war, dass sich so gut wie jeder im Ballsaal aufhielt, einschließlich der gesamten Dienerschaft. Die Wahrscheinlichkeit war also tatsächlich hoch, dass ihr erneutes Intermezzo unbemerkt geblieben war. Jedenfalls konnte sich Alexander diesmal nicht dazu durchringen, einfach zu gehen oder zuzulassen, dass Miss Winford ihn den restlichen Abend ignorieren würde. Im Ballsaal würde es später so gut wie keine Gelegenheit mehr geben, um alleine und in Ruhe mit ihr zu sprechen.
Also machte Alex mitten auf der Treppe kehrt und ging die wenigen Stufen zurück in den ersten Stock. Dort platzierte er sich an der obersten Stufe und beschloss zu warten, bis Miss Winford ihr Zimmer verließ. Er wollte ein klärendes Gespräch.
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