Nichts geht dem Onkel über den täglichen Wehrmachtsbericht, über Sondermeldungen zumal. Damit sind wir 1941 verwöhnt. Kostbar ist ihm eine Rede von Dr. Goebbels oder von Fritzsche. Sieg und immer Sieg. Ich will wissen, ob Berlin bombardiert wurde. Und wo. »Es ist schlimm, was da zerschlagen wird, in Köln, auch in Berlin«, sagt der Onkel. »Aber das lässt sich ersetzen. Wirkliche Erneuerung kommt nicht von den Städten, Konstantin, die kommt vom Lande her aus der Bauernschaft. An das Bauernblut kommen sie nicht ran.- Ich grübele: Olga und Anna, als Schwestern, sind blutsverwandt, ob sie nun in Krappitz oder in Berlin leben. Der Onkel kann halt die Großstädter nicht leiden.
Onkel Otto blättert im „Völkischen Beobachter“. Manchmal wirft er uns daraus einen Brocken hin. Was heißt uns ? Tante Olga räumt den Tisch ab. Ottchen döst.
Den Papst lehnt der Onkel ab. Er schimpft auf die Zentrumspartei. »Eure Sippschaft hat die Brüder immer gewählt«, ereifert er sich. Aber an den Jesuiten gefällt ihm, dass sie diszipliniert sind und straff organisiert. Onkel Otto wettert gegen viele Feinde, Kommune und Sozis. Unsere Erzfeinde kennt er alle. Das sind die Länder, die uns beraubt, geplündert und die Kolonien weggenommen haben. Besonders hat er es mit Frankreich. Da geht er bis auf Kardinal Richelieu zurück. Er vergisst nicht die Brandschatzungen in der Pfalz, auch nicht Napoleon und die Schande von Versailles.
»Nun, Frankreich ist besiegt. Nie wieder wird ein Franzose …« »Fußball spielen!« platzt Ottchen in Onkel Ottos Rede. Das hätte uns beinahe verraten, zumal wir bis über die Ohren rot werden. War doch erst drei Tage her: Wir schlendern am Sportplatz entlang. Ein Trupp französischer Kriegsgefangener, sie werden von einem ziemlich schläfrigen Heimatsoldaten begleitet, ballert ein bisschen aufs Tor. Unversehens rollt ihr Fußball zu uns. Ottchen pfeffert zurück – fast ein Tor. Nun spielen die Franzosen uns den Ball zu. Es macht ihnen Spaß mit uns zu bolzen. Uns macht es ja auch Spaß. Der Wachsoldat döst. Als wir Abschied nehmen – »Salut!“ – weist uns ein Gefangener auf ein Eichhörnchen, das grad einen Baum hinaufklettert. Der Franzose ruft: »Armes Deutschland – kleiner Fuchs!« Ein bisschen merkwürdig sind sie schon.
Unvermittelt kommt der Onkel auf das Weltjudentum zu sprechen. »Das ist die größte Gefahr“, sagt er. »In Berlin tut sich wenig. War doch alles in Nürnberg beschlossen, längst schon.«
Ottchen gähnt. Für einen Augenblick denke ich: Tante Olga braucht einen Jungen zum Auffüttern. Der Onkel braucht einen neuen Sohn.
*
Tranig ist Ottchen nur, wenn Onkel Otto auftaucht. Sie haben sich nichts zu sagen, so sehr die Tante zu vermitteln sucht. Er braucht Vaters Tiraden nicht. Will, sehr zu dessen Kummer, heute nicht Pimpf sein, morgen gewiss nicht Offizier. Mir sagt er: »Wenn mein großer Bruder so tapfer ist, das reicht.« Ich muss aufpassen, dass Ottchen und ich nicht gegeneinander ausgespielt werden. Natürlich sind wir zwei verschieden. Aber unsre Lieder, die wir in die Welt schmettern, sind gleich, Gassenhauer mit vielen Strophen:
Schorsch, du musst jetzt nach Amerika,
sprach der Vater einst zu mir,
denn du liebst die dicke Lina, Pause,
und das ist nicht
und das ist nicht
recht von dir.
Darum Jüngling, lass dir sagen,
eh du eine Jungfrau küsst,
frag sie ob sie evingelisch, Pause,
oder kata-
oder kata-
launisch ist.
Mit Ottchen macht sogar das Schuheputzen Spaß.
Unten an den Oderwiesen, auch im Lindenwäldchen sind wir ganz andere. »Warte mich!«, ruft er, wenn ich zu flink davonlaufe, »du kriegst Schnicke!« Aber er will mich nicht peikern. Es wäre unfair. Ich rede bald schon die Sprache unseres Indianerstamms. Die besten Flüche sind ohnehin die polnischen. Psiakrew pierunie!
An der Oder ist es schön, auch bei Eistreiben, Hochwasser, zu jeder Jahreszeit. Und wie gut der Fluss riecht, wie er murmelt, und bei jedem Wetter anders. In der Stadt hingegen ist nicht viel los. Da muß man sich behelfen. Aber es gibt ein Kino in Krappitz. Onkel und Tante kommen aus dem neuen Spielfilm über Schiller. Der Onkel empfiehlt ihn uns, sagt aber noch nicht, warum. Wir gehen in die Nachmittagsvorstellung, erleben: geisttötend den Drill, der auf den jungen Schiller hereinbricht, selbst das Zöpfeflechten der Kadetten erfolgt im Kommandorhythmus. Am Abend hält der Onkel mit seiner Begeisterung nicht zurück. »Eine militärische Erziehung der Jugend, das ist es, was wir brauchen. Morgen, das Beispiel der Karlsschule habt ihr gesehen, wird sie in ganz Deutschland Wirklichkeit.« – Der Onkel hat den Film nicht verstanden.
Ein Besuch im SA-Lokal ist nicht besonders lustig. »Schön, dass Sie uns besuchen, Parteigenosse Dürr«, sagt der Gruppenführer. »Heute haben wir nur einen Kameradschaftsabend. Sollen wir …«
»Weitermachen!«, sagt der Onkel, weist auf mich: »Das ist aus Berlin mein Neffe Konstantin, soll nur mal reinriechen …«
»Schwarzbraun ist die Haselnuss …«, wird angestimmt. Sechzehn Mannen singen kräftig »ha, ha, ha.«
Onkel spendiert eine Runde Bier. Beim Gläserklirren ein Sprechchor: »Und zieht der Arsch auch Falten, / wir bleiben doch die Alten.« Dann, ich wundere mich, denn alle sind erwachsen, werden einem der Männer die Augen verbunden, und sie spielen Schinkenklopfen . Der Onkel erhebt sich. Ich erinnere mich an verschwitzte Gesichter.
Das Obertorhaus von Krappitz sieht richtig gut aus. Es ist der letzte Rest der Stadtmauer, die es vierhundert Jahre lang gab. Wir haben die prächtige Pfarrkirche, dem Heiligen Nikolaus geweiht, und in Ottmuth drüben die Kirche Mariä Himmelfahrt. Gern hätte ich mir das Barockschloss angeschaut, das einmal den Grafen von Redern und später denen von Haugwitz gehörte. Mein Schulkamerad Bernd, Bernd von Stein, wohnt dort. Mit dem bin ich ein bisschen befreundet: er schenkte mir aus dem Schlosspark die blauweiße Feder des Eichelhähers – ich gab ihm einen Kiesel.
Krappitz besitzt kein Museum. Krappitz hat keinen Zoo, wo man sich wilde Tiere ansehen kann.
*
Als Ausflugsziel für den Sonntagnachmittag schlägt der Onkel Ottmuth vor. Ottchen hat sich schon aus dem Staub gemacht. Für Tante Olga ist der Weg zu weit. Zu zweit passieren wir die Oderbrücke, halten uns, wenn ich mich recht erinnere, in Richtung der BATA-Werke. Der Onkel schwenkt zu einigen Baracken ab. Das Gelände ist mit kräftigem Zaun und Stacheldraht eingegrenzt. Wir sind nicht die Einzigen dorthin unterwegs. Ein Torflügel zum Lager steht offen, ein Wachmann lässt sich den Ausweis zeigen. Auch die Türen der Baracken stehen auf. Besuchszeit. Männer, stoppelbärtig, in grober Arbeitskleidung, sind herausgetreten. Einige Gefangene stützen sich auf eine Brüstung, schauen, wer heut zu Besuch kommt. Das Lager liegt ein bisschen höher als der Ort. Trotz der Nachmittagssonne ist es kühl. »Das ist das Judenlager«, sagt Onkel Otto unbewegt, verbessert sich: »Das sind Halbjuden aus Krappitz. Morgens werden sie ins Schuhwerk geführt oder sonstwie ausgeliehen, meist zum Bau der Reichsautobahn.“ Derweil treten Besucher an die Barriere. Frauen wechseln ein paar Worte mit den Eingesperrten, holen ein Päckchen hervor, um es rasch zu übergeben. Brot? Gefangene, die niemand besucht, stehen und warten. Ich will fort. Große Augen prägen sich mir ein, Gesichter spitz und schmal.
*
Strahlende Sonne zweier Maientage hat den Frühling in die Stadt geholt. Blüten überall. Der Flieder springt auf, rote und weiße Kerzen schmücken die Kastanien, allen zur Freude und sehnsuchtsvoll erwartet. Eine Division Soldaten rückt in Krappitz ein, unerwartet, mit Waffen und Gerät, bezieht Quartier. Die Mädchen der Stadt freuen sich – sie sind blass, wenn man sie mit den braungebrannten Gesichtern der Rekruten vergleicht. Auch wir Jungen haben unsern Spaß: schulfrei. Plötzlich ist unsere Schule Mittelpunkt eines wirbelnden Heerlagers, das die Stadt verändert.
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