Behms sind großzügig. Was sie nicht aufessen, darf Mama durch die Doppeltür nach Haus tragen. »Das sind Brosamen«, sagt Vater, und manchmal sagt er Bettelsuppe . »Sie sollten dich lieber richtig bezahlen!«
Und dann wird Mama böse und fragt: »Und wie bezahlt man dich? Und wie viele Monate gar nicht? Wie lange soll das so weitergehen!«
Das ist der Augenblick, ich weiß es, wo der Streit um Afghanistan erneut ausbrechen könnte. Nun braucht Vater nur noch zu sagen: »Wir hätten der Einladung des jungen Königs an das deutsche Handwerk gefolgt haben sollen. Er ist vertrauenerweckend. Du hättest ihn sehen sollen, wie er mit wehendem Federbusch aus seiner Kutsche stieg - ein stattlicher Mensch. Ich würde es nicht sagen, wenn ich ihn Unter den Linden nicht selber beobachtet hätte. Hunderte sind gegangen und haben in Afghanistan ihr Glück gemacht - deutsche Ärzte und deutsche Architekten, Geologen und deutsche Bergingenieure, Tatsache. Wir haben die Zementfabrik und das Zündholzwerk gebaut ...«
»Und was soll da ein Kürschner?«
»An Schafffell, auch Persianer, mangelt es überhaupt nicht. Das sind Tatsachen. Sie haben Fuchs und Tiger und Leopard ...«
»Hyänen und Schakale«, höhnt die Mama.
»Spotte nur, Weib, hier gibt's Hyänen und Schakale auch - aber keine Arbeit, eine gottverfluchte Welt das.«
»Du redest wie ein Heide. Gewiss warten die Mohammedaner schon auf einen katholischen Kürschner aus Oberschlesien, der nicht Türkisch kann.«
»Und du siehst über Behms Kochtopfrand nicht hinaus, schlimm«, sagt Vater. »Auch in Afghanistan bleibst du unter Landsleuten, es gibt in Kabul eine Schule, eine deutsche Oberrealschule unter deutschen Lehrern. König Ahman Ullah hat hier in Berlin einen sehr guten Eindruck gemacht ...« Aber nun ist meine Schwester nicht mehr zu bremsen und ruft:
Die Rieselfelder sind geflaggt:
Ahman Ullah hat gekackt!
Dann haut Papa ihr eine Backpfeife, obwohl wir den Spruch über Ahman Ullah von ihm selber gelernt haben, und Mama ist wütend und schreit: »Geh doch nach Afghanistan, wenn du dich nicht beherrschen kannst!« Und Papa tut die Maulschelle leid.
Aber Vater sagt heute nichts, doch ich merke, die Suppe schmeckt ihm nicht, die gute Gemüsesuppe von Behms, mit Rindfleischstücken drin, und die besten Fleischstücke hat Mama extra für ihn aufgehoben - er hat nachts gezweckt und genäht und tags genäht und gezweckt und ist ziemlich weit gelaufen. Und es ist ziemlich gut und ziemlich schlecht, dass es kalt ist. Aber es müssen Groschen in die Teebüchse kommen, so ein Gasometer tickt und tickt und will gefüttert sein. Und das Jahr hat einen viel zu langen Sommer.
*
Ich habe nichts gegen den Sommer, sollen die Großen reden, was sie wollen. Ich mag es sehr, dass Vater Zeit für mich hat, viel Zeit. Wir singen, und es wird gezeichnet - ein Pferd, ein Schaf, ein Schwein. Schafe und Schweine gibt es bei uns nicht. Aber Pferde gehen jeden Tag bei uns aus und ein. Richard Sprung, dem unser Haus gehört und noch ein paar Häuser im Kiez, besitzt ein halbes Dutzend Pferde. Auf unserm Hof werden sie geputzt und geschirrt, ehe sie die Kisten mit Seife und Waschpulver in die Drogerien ausfahren. Die Pferde vom alten Sprung sind kleiner und schmaler als die Brauereipferde von Schultheiß und die Gäule von der Müllabfuhr, aber bestimmt sind sie flinker und schöner als alle Pferde, die sonst in unserer Straße verkehren. Nehmen wir mal die Polizeipferde. Eigentlich, gut ausgefuttert, sind sie schön. Wenn sie in die Leute reinrennen und die Schupos, vor Aufregung mit ganz rotem Kopf von oben schreien und mit dem Gummiknüppel nach links und nach rechts dreschen, dann sind sie kein bisschen schön. Warum wird geschrien und gedroschen? Ich weiß es nicht. Und warum laufe ich hinter den großen Jungen, die flinker sind als ich, zur Volksbühne? In der Menschenmasse, die hin und her wogt und aufbrüllt vor Zorn, verfangen sich die Pferde. Schon wird hier und dort ein forscher Reiter zu Boden gerissen, ein paar Tschakos fliegen wie Bälle über die Köpfe der Leute, verrollen im Rinnstein und an den Stufen des Theaters, und ich laufe, renne, pese, längst atemlos, und wieder der Letzte.
Und bezweifle meinen Alptraum: War's ein Film, der hier ablief oder - gedreht wurde? Aber Angst und Atemlosigkeit waren echt, das Menschengebrüll, das Schnauben der Pferde war echt, die beiden Tschakos waren echt, die die Beherztesten als Beute mit sich trugen - wie lebensecht wollten wir Räuber und Schupo spielen mit dem blitzenden Kopfputz, obgleich so ein Tschako selbst für Fritze Bronn zu groß ist, mit viel zu weitem Sturmriemen! Und gewiss waren Entsetzen und Entschlossenheit der Eltern echt, die die eroberten Bedeckungen der Staatsmacht unverzüglich im aschebraunen Müllkasten verschwinden ließen.
Zwei Häuser weiter Richtung Straßburger, vor Lewinsons Bäckerei, steht eine große gusseiserne Pumpe mit weit ausholendem Schwengel. Alle Gäule, die hier haltmachen, werden von uns bedient. Die braune Stute, die allwöchentlich ein grünes Wägelchen mit klein gehackten Holzscheiten durch unsere Straße zieht, erhält ihren Trunk. Der Besitzer läuft neben oder ein wenig vor dem Fuhrwerk, er geht von Hof zu Hof, schwingt eine Glocke und singt sein langgezogenes Lied:
Brennholz füüür Kartoffelschaaaln.
Bringst du einen Topf mit Küchenabfällen, reicht dir die Bauersfrau, die auf dem Wagen hocken bleibt, drei Hände voll Brennholz zurück. Auch für das Pferd, das den Eiswagen bugsiert, pumpen wir Wasser. Behms haben einen halben Block für ihren Eisschrank bestellt, im Emailleeimer trägt ihn Mutter in den zweiten Stock. Aber zu den Pferden von Bolle ist unser Verhältnis gestört, und nur wegen der Kunst. Wenn Bolles hoher weißer Kastenwagen auftaucht, rotten wir uns zusammen und schreien so laut und so kreischend wir können:
Bolle bimbim,
der Käse is dünn,
die Milch is dick,
Bolle is verrückt.
Ich will hier mal sagen, dass die Mugeles auf Bolle gar nicht angewiesen sind: Mutter holt sich die Milch kostenfrei in der Herz-Jesu-Kirche ab, und wenn welche übrig bleibt und schlickert, macht sie in einem Leinenbeutel Quark. Wir sind unabhängig. Wir brauchen Bolle nicht! Doch der Kutscher knallt wütend mit der Peitsche und wir verschwinden lärmend. Wenn Bolles Lieferwagen in die Alte Schönhauser einbiegt, kehrt das friedliche Leben zurück. Die Mädchen setzen ihre Puppen in die Aprilsonne, „Himmel-und-Hölle“-Hopse haben wir nach dem langen Winter wiederentdeckt, wir trieseln und spielen mit Murmeln.
Das Beste, was mir passieren kann, ist eine Tour mit einem von Sprungs Lieferwagen. Dann darf ich neben dem Kutscher auf dem Bock Platz nehmen und auch mal die Leine halten, während er die Kartons ablädt und in den Seifenladen schafft. Mein liebster Kutscher ist der drahtige und ziemlich kleine Herr Krusche, der sich früher mal als Jockey versucht hat. Hausbewohner, die er mag, dürfen seine Pferde streicheln. Aber dass ich mitfahre, das zu erreichen vermag nur Vater. Er ist groß wie Herr Krusche - die Kleinen verstehen sich.
Aber die Kleinen vertragen sich auch mit den ganz Dicken. In der Saarbrücker Straße wohnt ein Freund vom Vater, der ist über vier Zentner schwer. Er geht bedächtig durch die Straßen - man darf ihn grüßen und kostenlos angucken. In anderen Städten lässt er sich, wenn er auf Tournee ist, nur für Geld sehen. Bei einem Maßschneider gibt er dann eine neue Hose in Auftrag, und Papa, sein Freund, kriegt die alte. Die wird von Mama auf dem Waschbrett gewaschen, dann getrocknet und zerschnitten. Alsbald näht sie uns was, es ist schöner grüner Manchesterstoff, nur an Gesäß und Knien sind die Rillen abgewetzt. Ein Hosenbein reicht, uns drei Kinder neu auszustaffieren, etwas später kommen Papa und Mama dran, und wir Mugeles könnten alle in Grün gehen, aber es kommt nicht dazu, weil Mama es vermeidet.
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