Er konnte damals nicht sehen, dass auch und vor allem im Westen Berlins nicht alles Gold war, was auf den ersten Blick noch danach aussah!
Insofern unterschied er sich nicht sonderlich von tausenden anderen jungen Menschen.
Davon, was Demokratie und Freiheit implizierten, hatte er nur recht vage Begriffe, die sich eng an den Geschichtsunterricht auf dem Dahlemer Gymnasium anlehnten und die griechische und vor allem nordamerikanische Historie betrafen. Er fasste darunter vor allem die Abwesenheit von Mauer und Stacheldraht, die Abwesenheit der SED und ihrer Militärorgane, die Abwesenheit jedweder Form individuellen Zwanges und die Möglichkeit, beinahe grenzenlos und nach Belieben Waren einkaufen und Filme anschauen zu können.
Ja selbst Südfrüchte, vor allem Bananen, Orangen und Ananas, Westkaffee, Westschokolade und Westzigaretten, schienen ihm in engster Beziehung zu den Begriffen und Inhalten von Freiheit und Demokratie zu stehen. Und allein die Tatsache, dass ihm der Konsum dieser seltenen und begehrten Produkte vorenthalten blieb, schürte seinen Zorn auf jene Leute und auf jene Partei, die ihn seiner Meinung nach um sein Bisschen junges Leben betrogen, indem sie ihn in diesem tristen Land einsperrten und zwangen, nun einen ganz simplen Beruf zu erlernen, bei dem er tatsächlich Gefahr laufen würde, geistig zu verblöden oder irgendwann zum Trinker zu werden, so wie viele Mitglieder des sogenannten Proletariates, die er kannte und deren roher und einfacher geistloser Lebenswandel ihn immer wieder abstieß.
Er hingegen fühlte sich als etwas Besonderes, als ein Mensch, der zu Höherem berufen war und der einen quasi messianischen Auftrag in der Welt zu erfüllen hatte!
Zweifellos war er ein Intellektueller, dem sie durch eine simple Tätigkeit in jener Sphäre, die sie schlicht „die Produktion“ nannten, nach und nach die Fähigkeit nehmen wollten, nachzudenken und ein philosophisches Gedankengebäude zu entwickeln, welches die Unhaltbarkeit der Zustände in der DDR nachweisen könnte!
Er hatte tatsächlich viel und mit Hingabe gelesen. Nicht etwa die Russen, ja nicht einmal die russischen Klassiker, die sie stets in den Himmel hoben, vielleicht deswegen, weil der große Stalin sie einst gelesen hatte. Ostrowski und Scholochow, diese geistig platten Arbeitstiere und Apologeten der Planerfüllung in den Kolchosen und Betrieben, sie waren ihm ein Graus, weil sie keinerlei Individualität des Menschen kannten und anerkannten, sondern sein Leben auf die Pflicht zum Dienst an der Idee des Sozialismus reduzierten, wobei die Entfaltung eines Privatlebens beinahe zwangsläufig auf der Strecke bleiben musste! Offenbar hatte ganz besonders der russische Mensch eine geradezu masochistische Grundanlage seines ureigensten Wesens, die ihn gerade dazu zwang, sich immer wieder unter entsetzlichsten Schmerzen und Qualen aufs Neue irgendwelchen Gewaltherrschern zu unterwerfen, die ihn knechteten und ausbeuteten, hießen sie nun Zar oder KPdSU! Und war es nicht auch schlichtweg Ausbeutung, was in den sozialistischen Staaten mit den Arbeitern und Bauern geschah? Schafften diese nicht auch hier die Grundlagen für die Existenz des Staates? Jene Grundlagen, von denen eine kleine Parteielite dann wirtschaftlich und finanziell profitieren konnte? Wenn im Kapitalismus der Fabrik- und Grundbesitzer die Arbeiter und Bauern ausbeutete, so war es in den sozialistischen Ländern die jeweilige kommunistische Partei, die das Volk zwang, zu arbeiten, um es auf diese Weise auszubeuten und um die Früchte seiner Arbeit zu bringen! Worin bestand also der Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus, wenn doch in beiden Systemen das Volk gleichermaßen ausgebeutet wurde? Er bestand zum einen darin, dass es den Arbeitern und Bauern im Kapitalismus trotz Ausbeutung wirtschaftlich immer noch besser ging, als den Arbeitern und Bauern im Sozialismus! Denn der ausgebeutete Arbeiter im Westen konnte sich ein Auto kaufen, Bananen essen und französischen Rotwein trinken, er konnte reisen! Vor allem aber konnte er scheinbar offen seine Meinung sagen, indem er den Kapitalisten auf Demonstrationen und in den Zeitungen, ja selbst im Fernsehen, ein Schwein nennen durfte. Vielleich hatte er dann deswegen hinterher keine Arbeit mehr, aber er konnte die Wahrheit wenigstens einmal ungestraft aussprechen! Vor allem jedoch und darauf kam es letztendlich an, konnte der ausgebeutete Arbeiter im Kapitalismus den Dreck einfach hinschmeißen, wenn ihm die Scheiße eines Tages bis zur Halskrause stand! Er konnte nämlich kündigen, seine Sachen packen und nach Amerika, Australien, Neuseeland oder nach sonst wohin auswandern, wenn er die Faxen einmal dicke und das nötige Kleingeld dazu hatte!
Im Sozialismus aber konnte der Arbeiter nicht hinschmeißen! Er blieb sein Leben lang an Arbeit, an sein Land, an Partei und Massenorganisationen gekettet, wie ein Sklave an seine Galeere! Und wenn er aus Protest aufhören würde, zu arbeiten, so würden sie ihn als Asozialen einsperren und selbst im Knast noch dazu zwingen, für sie zu arbeiten!
Kapitalismus, das war für ihn Freiheit. Eine Freiheit, so grenzenlos und unsagbar, dass sie selbst die Freiheit des Individuums einschloss, im Winter unter einer Brücke erfrieren oder ganz einfach verhungern zu können! Es war ein freies Leben, aber zugleich auch ein Leben, welches den Einzelnen unausgesetzt forderte, sein Bestes zu geben und der Beste zu sein, wollte er nicht wirtschaftlich auf der Strecke bleiben! Kommunismus aber bedeutete die größte vorstellbare Form der Unfreiheit! Eine Unfreiheit, die so weit ging, dass sie dem Einzelnen, der als williges Rädchen im Großen und Ganzen zu funktionieren und zu jubeln hatte, selbst die Freiheit nahm, über das Weiterleben oder das Nicht-Weiterleben seiner Person entscheiden zu können!
Aus diesen Gründen hatte er die Lektüre russischer und sowjetischer Autoren und Schriftsteller als Apologeten der Unfreiheit und der Unterwerfung des Individuums unter den totalitären zaristischen oder den totalitären kommunistischen Staat stets vehement abgelehnt.
Stattdessen jedoch, hatte er sich mit Hingabe den verfemten amerikanischen Schriftstellern zugewandt, deren Werke rar oder gar nicht aufzutreiben waren. Von Twain bis Hemingway hatte er bereits in jungen Jahren alles verschlungen, was ihm in die Hände gefallen war. Darunter auch Jack London, der zumindest als linkslastiger Autor galt. Ja, gerade immer wieder Jack London, dessen ungeschminkte Beschreibung der kapitalistischen Realität ihm höchsten Lesegenuss beschert hatte.
Sein ausgemachtes Lieblingswerk darunter war jedoch der Roman „Martin Eden“. Nicht allein deswegen, weil hier der Aufstieg eines außergewöhnlichen Menschen dargestellt wird, der sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen jene Widerstände zur Wehr setzt, die ihm auf seinem Durchmarsch nach oben, hin zu Bildung, Anerkennung und Reichtum, in den Weg gelegt wurden, wobei er jedoch am Ende siegte. Nein, vor allem auch deshalb, weil London hier zeigte, wie harte körperliche Arbeit den Menschen auszehrte, seinen Geist nach und nach abstumpfte und verarmen ließ und den betreffenden Menschen empfänglich machte für die betäubende und ihn vernichtende Wirkung des Alkohols.
Er meinte, gerade dies geschähe doch in der DDR und in den anderen sozialistischen Staaten des Ostblocks im ganz großen Stil. Der sogenannten Arbeiterklasse wurde unausgesetzt suggeriert, dass sie die herrschende Klasse sei, der die Produktionsmittel letztendlich gehörten. Tatsächlich aber war die Arbeiterklasse zu einer willenlosen Horde hirnloser Arbeitstiere und gewaltbereiter Säufer degeneriert, die keine politische Erscheinung mehr hinterfragte, sondern nur noch tat, was die Partei ihr befahl, während sie dabei ihren Trost im billigen Alkohol suchte.
Die Arbeiterklasse in der DDR, in die man ihn gerade zwangsweise hinein pressen wollte, bestand für ihn aus 17 Millionen Martin Edens, die von Montag bis Freitag in den Fabriken, auf den Feldern, in den Ställen und Wäldern und unter Tage schufteten, um sich dann von Freitagabend bis Sonntagabend sinnlos zu betrinken, damit Fron und Mühsal einer Arbeitswoche und all die leeren Schaufenster, die löchrigen Straßen und die grauen und zerfallenden Fassaden der Häuser auch nur halbwegs erträglicher wurden!
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