Das hielt ich aus. Notfalls verbrachte ich die Nacht auch auf dem Küchenboden - Hauptsache, ich wäre diesen ekelhaften Kreaturen nicht ausgeliefert. Am liebsten hätte ich den ganzen Sommer über nicht ein Fenster geöffnet, aber bei der Hitze war es nicht auszuhalten und Mutter fürchtete sich nicht vor Spinnentieren. Ebenso wenig wie vor nassen Flecken an der Zimmerdecke.
An jenem Morgen bin ich von einer rauen Stimme wach geworden. Der Kesselschmied hatte in aller Frühe so lange vor dem Haus gerufen, bis Mutter ihm öffnete. Er erzählte etwas von einem Sturm, der das Dorf bald erreichte, und half ihr, die verzogenen Fensterläden zu verriegeln, deren rostige Scharniere seit dem Unwetter im November nicht mehr bewegt worden waren. Dann hetzte er weiter, zum nächsten Haus und hatte seine Not, über die immer größer werdenden Pfützen hinweg auf trockene Stellen des Weges zu springen.
Als ich die Treppe herunterstieg, wechselte Mutter ihr Kleid. Fünf Minuten vor der Tür hatten gereicht, es völlig zu durchnässen. Ich machte einen Fensterladen aus, an dem zwei Lamellen fehlten, und erschrak, wie tief dahinter der Himmel hing. Wie eine Wand stand das Unwetter über dem Wald und sammelte seine Kräfte. Doch noch war es nicht bei uns. Wir spürten erst den Wind, einen Vorboten - einen starken zwar, aber bislang keinen stürmischen. Er zog an den Ästen der Bäume und versuchte sie in eine Richtung zu biegen. Das gelang ihm nur bei den Trauerweiden. Sie standen schräg hinter dem Haus an einer Uferseite des Flusses, der Nachbars Mühlrad ununterbrochen antrieb. Nach jedem Winter spülte die Strömung die Wurzeln mehr und mehr aus, bis die Hälfte von ihnen frei im Wasser stakte. Mit jedem Sommer wurden die Ruten schwerer, tauchten tiefer in den Fluss und zogen die Weiden noch bedrohlicher zur Wasserseite. Ich war mir sicher, dass es eines Tages einen gewaltigen Windstoß geben würde, dem sie nicht mehr standhalten könnten.
Wir lassen erst voneinander ab, wenn Bäume umgestürzt sind und uns die Kraft verlassen hat. Immer, wenn es um den Wind ging, kamen mir Sätze wie dieser in den Sinn. Sie waren Teil einer Geschichte. Als ich klein war, bildete ich mir ein, dass der Wind sie mir selbst erzählt hatte. Mit der Zeit konnte ich jedoch immer weniger daran glauben, dass es tatsächlich so gewesen sein soll. Merkwürdig war nur, dass mir auch Jahre später nicht ein Wort dieser Geschichte verloren ging
Ich fege durch ein Windrad, dessen Stiel in einem Beet steckt, verfange mich darin, reiße es mit, um in einen Laubhaufen einzutauchen und ihn in sämtliche Richtungen zu zerstreuen. Ich bin etwas, dass die Welt dem Stillstand entgegenzusetzen hat.
»Mit dem Stillstand folgt der Tod«, hatten alle gesagt, die wie ich waren, als ich jung war. Bin ich noch immer jung?
Als ich das Laub abschüttle, fahre ich einer Frau durch die Haare, umschmeichele ihren Hals. Sie ist weich, zart oder etwas dazwischen.
Angetrieben von Unruhe, die mein Wesen zu sein scheint, zieht es mich an den Stadtrand. Dort reiße ich Blumentöpfe von Fensterbrettern und stoße einen alten Mann um, aber das befriedigt meinen Zerstörungsdrang nur zu einem Bruchteil.
Plötzlich bewegen sich die Baumwipfel hinter der letzten Hausreihe. Ich bin nicht mehr allein.
Der, den ich entdeckt hatte, lässt mich aufbrausen und schlagartig über das Vielfache meiner Kraft verfügen. Diese Reaktion gibt es immer, wenn ich mit meinesgleichen aufeinandertreffe. Wir schlagen zusammen, um uns in unserer Wut der Stadt zu bemächtigen, und sie die Nacht über, mit Sturm und Unwetter zu füllen. Wir lassen erst voneinander ab, wenn Bäume umgestürzt sind und uns die Kraft verlassen hat.
Ich ziehe weiter, ohne zu wissen, mit wem ich gerungen habe. Das weiß ich nie, denn wir sehen einander nicht - nur das, was wir bewegen oder zerstören. Wir sehen ja nicht einmal uns selbst. Vielleicht gibt es nur ganz wenige von uns und ich gerate immer mit demselben aneinander.
Dann erblicke ich sie erstmals, schaue ihr fasziniert zu. Wage mich nicht zu ihr und wünsche mich doch in ihre Nähe.
Sie ist ganz anders. Es muss samtig sein, sie zu berühren. Als sie auf mich zukommt, greift sie behutsamer in die Blätter, als ich es je könnte, und legt ein fortwährendes Rascheln über sämtliche Geräusche .
Wir sprechen nicht. Alles, was wir tun, tun wir leise. Wir werden langsamer, brauchen die Geschwindigkeit mit einem Mal nicht mehr. Ich tue das, was ich für Umarmen halte, und plötzlich stehen wir still.
Und lösen uns auf.
*
Das Ungetüm vor dem Haus war beängstigend. Es hatte sich zu einem Vielfachen des vorgeschickten Windes aufgetürmt und dessen Tosen in ein tiefes Grollen umschlagen lassen. Sobald es in der Richtung drehte, peitschte es den Regen gegen das Holz und ich sah nichts mehr durch meinen Spalt. Dann aber hörte ich Mutter, die etwas vor sich hin murmelte - wohl einen Psalm des Pastors. Immer dieselben Sätze, immer wieder und wieder. Es klang unheimlich. Ich wollte sie umarmen, das hätte mich beruhigt, aber es ging nicht, wenn sie so abwesend war. Das konnte sie dann nicht aushalten. Also tat ich das Gleiche wie sie und ordnete in den Schränken das Geschirr. Wir machten das nicht, weil es etwas mit dem Sturm zu tun hatte, sondern weil es Mutter beruhigte.
Um acht brach er über uns herein. Das Haus könnte ihm wohl standhalten, egal wie stark er am Dach zerren würde. Doch binnen Minuten befanden wir uns auch in Reichweite des Gewitters. Und Gewitter waren etwas viel Unheimlicheres als Wind oder Sturm. Ich sah, wie die Blitze in den Wald einschlugen und mir wurde himmelangst. Ich griff nach Mutters Händen, damit sie mit dem Räumen aufhörte, und klammerte mich daran fest.
»Fürchtest du dich auch?«
»Ich kann nicht«, sagte sie. Sie zog ihre Hände an sich und ging in der Küche auf und ab. Die Pupillen hielt es nicht lange auf einer Stelle des Raumes. Sie sprangen von einer zur nächsten. Das kannte ich von ihr. Dann fing es an, ihr schlechter zu gehen.
»Mutter?«
»Ich kann nicht!Ich kann nicht! Ich …« Sie sagte diesen Satz immer fort, bis sie bei der Tür war. Dort schrie sie: »ICH MUSS HIER RAUS!«, und schlug mit den Fäusten dagegen.
»Bleib bei mir!«
»Ich kann nicht!«, fauchte sie mich an und kam meinem Gesicht bedrohlich nahe. Plötzlich war das Gewitter egal und ich bemühte mich nur noch, nicht zu weinen, um ihr keinen Grund zu geben, böse auf mich, statt auf den Sturm zu sein.
Sie versuchte den Schlüssel der Haustür zu drehen, da klammerte ich mich an ihren Rock und zerrte sie zurück.
»Lass mich!«
»Du musst bei mir bleiben.«
Sie wurde feuerrot und schrie mir etwas entgegen, das ich nicht verstand.
»Du kannst nicht raus«, flehte ich und hielt sie so fest, wie ich konnte. Aber sie schlug mit den Armen um sich, traf mich mit dem Ellenbogen an der Schläfe und riss die Haustür auf. Eine Böe ergriff die Küche und warf tosend alles von den Schränken. Sie zog die Halterungen der Vorhänge aus den Wänden. Es war so laut, dass es unmöglich wurde, auch nur ein Wort zu verstehen. Ich versuchte noch, etwas von Mutter zu fassen zu bekommen, aber ich griff ins Leere.
Sie war bereits in den Sturm gelaufen.
Als man mich am Abend oberhalb der Treppe fand, stand das halbe Haus verwüstet unter Wasser. Doch das interessierte niemanden. Die Leute aus dem Dorf versuchten herauszufinden, was mit uns geschehen war, aber ich sprach nicht. Nicht ein Wort. Egal, auf welche Weise sie es anstellten. Es ging nicht. Sobald ich den Mund aufgemacht hätte, wären sie wie die Geier über mich hergefallen und hätten jede Einzelheit aus mir herausgepresst. Auch als sie Mutter am darauffolgenden Tag in bemitleidenswertem Zustand fanden und in eine Anstalt brachten, blieb ich still. Sie lebte. Das reichte den Leuten aus dem Dorf, um mit den Fragen aufzuhören.
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