„Dafür ist seit dem zweiten Weltkrieg mein Vater zuständig“, korrigierte mich Bernd und stellte mich seinem Vater vor, der recht apathisch und scheinbar leblos auf einem der Sessel lag. Ich bemerkte aber, dass sich sein Brustkorb hob und senkte. Daraus schloss ich, dass er doch noch am Leben sein musste. Erleichtert versuchte ich zu ihm Kontakt aufzunehmen. Doch Bernd Schneider kam mir zuvor...
„Opa, Opa“, brüllte Bernd seinem Vater ins Ohr. „Wir haben Besuch von unserem Nachbarn.“
„Was“, brüllte der Opa.
„Der Herr – feiert - heute – mit – uns – Ostern.“
„Gelobt sei der Herr“, bestätigte Opa.
„Aber was zur Hölle will den unser Nachbar hier, dieser Antichrist?“, brüllte Opa und musterte mich feindlich.
Glücklicherweise brachte Opas Inkontinenz eine erfreuliches Wende in unsere kurze Plauderei. Bernd und seine Frau packten Opa und trugen ihn ins Badezimmer, wo er recht gefühllos in die Wanne geworfen wurde. Frau Schneider verschnaufte kurz und schickte dann ihren Liebling Klaus Hermann auf die Suche nach dem Osternest.
„Wie ich meinen klugen Klaus kenne“, prophezeite Frau Schneider mit unverhülltem Stolz. „Wird er das Nest im Nu finden. Der verkalkte Alte versteckt es immer im linken Sofa.“
Mit der Sicherheit einer jahrelangen Routine, stürzte sich Klaus Hermann sogleich auf das linke Sofa. Angestachelt von seinen Erzeugern, wühlte er sich durch die Kissen und verschwand dann zeitweise vollständig in den gewaltigen Sofa-Ritzen.
„He, wollt ihr mich verarschen?“, hob das Kind plötzlich seine Stimme. „Da ist nichts.“
„Aber es muss da sein, es ist doch jedes Jahr dort“, klamüserte Frau Schneider.
Gemeinsam mit seiner Frau begann die kleine Familie die Polster des Sofas systematisch zu zerlegen. Plötzlich sprang Bernd auf, rannte zum Bad und trommelte hysterisch an die Tür.
„Opa“, wo hat du es versteckt?
„Was?“, hörte ich aus dem Bad.
„Wo – sind – die – Eier?“, brüllte Bernd.
„Was für Eier?“
Panik brach aus. Mit Messern bewaffnet, arbeiteten sich die Eheleute Schneider ins Innere des Sofas vor, während Klaus Hermann weinend und mit hängenden Armen mitten im Zimmer stand.
„So eine Scheiße“, eskalierte der Kleine. „Jemand hat mein Osternest gestohlen.“ Er schickte mir einen wutentbrannten Blick und ballte seine Fäuste. Um von mir abzulenken, kroch ich suchend unter das Sofa. Bernd begann die Nähte des Sofas aufzuschneiden und die Füllung herauszureißen.
„Acht Schokoladeneier können sich doch nicht einfach in Luft auflösen“, skandierte er mit Holzwolle auf dem Kopf.
Kein Zweifel, diese Szenerie war wirklich einmalig, und würde mir für immer in Erinnerung bleiben.
„Jedes Jahr der gleiche Mist“, heulte Klaus Hermann. Während seine Eltern die Einzellteile des Sofas im Wohnzimmer verteilten.
Opa hatte sich zwischenzeitlich aus dem Badezimmer befreit, und erschien vollkommen Nackt im Wohnzimmer.
„Zum Geburtstag viel Glück, schaut nach vorn nicht zurück“, sang er aus voller Kehle.
Einfach herrlich und einmalig. Nur mit Mühe gelang es mir, meine Emotionen zurück zu halten. Mein Zwerchfell begann wehzutun. Meine Lachmuskeln wollten arbeiten und ich hatte große Mühe, sie davon abzuhalten. Schließlich wollte ich meine Nachbarn und ihren verblödeten Sohn nicht kompromittieren. Nach einer gefühlten weiteren Stunde, wurde die Suche ergebnislos abgebrochen und Bernd brachte die Trümmer des Sofas auf die Terrasse.
„Nächstes Jahr klappt es bestimmt“, tröstete Frau Schneider ihren Sohn, während sich Bernd abmühte, seinen Vater vor den wütenden Angriffen seines Sohnes zu schützen. Opa drehte sich lächeln um und legte sich zurück in die Wanne.
Ich zog mich auf Zehenspitzen in die rechte Ecke zurück und ließ mich erschöpft auf das rechte Sofa fallen.
Kratsch...!
Acht stramme Schokoladeneier gaben unter meinem Gewicht ihren Geist auf. Ich wagte nicht mich zu rühren, und sann mit geschlossenen Augen darüber nach, ob es nicht besser gewesen wäre, mit meiner Liebsten in Hartau einen Autodiebstahl zu beobachten. Da auch das Essen ausfiel – sämtliche Speisen auf dem Esstisch waren von der Füllung des Sofas überdeckt - verließ ich nach einer kurzen Wartezeit die kleine Familie mit der Begründung: „Anna würde mich bald anrufen.“
Am nächsten Tag
Es war ein recht kühler Ostermontag Vormittag. Ich war auf der Autobahn Richtung Berlin unterwegs und befand mich gerade auf Höhe der Abfahrt Hof. Irgendwie fühlte ich mich nicht so besonders, um es so zu formulieren, mir war richtig schlecht. In meinen Eingeweiden schien sich eine Riesenschlange zu winden, um sich ab und zu in meinem Dickdarm zu verbeißen. Was war wohl der Grund?, fragte ich mich. Ich hatte doch nichts falsches gegessen..?
Wahrscheinlich war ich unter Zeitdruck, und daher zu übereilt aufgebrochen. Nicht einmal richtig gewaschen hatte ich mich. Ich hatte die Osternestsuche bei Familie Schneider glücklich hinter mich gebracht. Zur Belohnung wollte ich mir danach ein kleines Bierchen gönnen. Also ab in den Gasthof Heller genau gegenüber. Leider blieb es nicht bei einem Bierchen. Man kam ins Reden, wie schon so oft. Es war ja auch urgemütlich im Gasthof Heller. Nicht nur eine sehr gute deutsche Küche war zu verzeichnen, auch das Kulmbacher Bier war fantastisch. Von den Preisen ganz zu schweigen. Schweinebraten mit Sauerkraut und fränkische Klöße für 5,50 DM und ein halber Liter kostete 1,80 DM. Zudem waren die Portionen so groß, dass eine mittlere Familie davon satt geworden wäre. Da blieb man gerne. Nicht nur weil es das in Berlin nicht gab, ich mochte auch die Leute, die mit mir am Tisch saßen. Ich kam ja aus der Berlin, und die Neugier der Leute war unerschöpflich. Nach ein paar Bier gab ich auch bereitwillig Auskunft. Die Frage eines Bauern, dessen Händedruck den Geruch von Kuhstall so intensiv auf meiner Hand hinterließ, dass die Kontamination auch nach mehrfacher Handwäsche nicht zu beseitigen war: „Wie viele Mitglieder das Rote Kreuz in Berlin wohl haben würde?“, überstieg jedoch meinen Kenntnishorizont. So wurden mir manchmal Fragen gestellt, die in mir oftmals den Samen der Erkenntnis keimen ließen, dass die Leute des Ortes nicht mitbekommen hatten, dass der zweite Weltkrieg schon lange vorbei war. Meistens zur späten Stunde, wurden von den älteren Eingeborenen aus voller Kehle Kampflieder der Wehrmacht gesungen, dessen öffentlicher Vortrag vor dem Berliner Reichstag eine mehrjährige Haftstrafe, oder zumindest die Einweisung in eine Heilanstalt zur Folge gehabt hätte. Wie ich es schon sagte, es war urgemütlich. Also, ich blieb bis 23.00 Uhr. Ich hatte mich köstlich amüsiert, mächtig einen in der Krone, aber auch gut und reichlich gegessen. Der Schweinebraten mit Sauerkraut war so gut, dass ich gleich zwei Portionen verdrückt hatte. Allein die Kruste war göttlich und jeden Pfennig wert. Wie ich in mein Bett kam, wusste ich nicht mehr. Als ich jedoch am nächsten Morgen aufwachte, stand die Sonne schon auf 11 Uhr. „Scheiße“, fluchte ich. „Verschlafen..!“
Ich hatte noch einiges zu tun, und sprang ohne das übliche wach Schlummern aus dem Bett. Es gab es nur eine Katzenwäsche ohne Zähneputzen. Dann noch das Wasser abstellen, Fensterläden schließen und Heizung auf Wintermodus stellen, den Kühlschrank ausräumen und abstellen. Noch ein kurzer Blick...abschließen, die Sachen im Kofferraum verstauen und ab Richtung Heimat. Nun war ich auf Höhe der Abfahrt Hof und in meinem Bauch rumorte es bedenklich. Es war unmissverständlich, ich brauchte dringend eine Toilette. Bis Berlin würde ich es nicht aushalten. Soviel war klar. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich dem Druck, der sich unüberhörbar in meinen Eingeweiden aufgebaut hatte, noch länger als 10 Minuten standhalten würde. Als sich zu dem tiefen Rumoren auch noch die typischen Schmerzen im Unterbauch gesellten, war Gefahr in Verzug. Jeder kennt doch das Gefühl, wenn man für ein gepflegtes Klo seine Mutter verkaufen würde. Man verliert jegliche Kontrolle über seine Manieren, mehr noch, man verliert seine Menschlichkeit. Ein blaues Schild signalisierte mir, dass die nächste Raststätte noch zwölf Kilometer entfernt war. Ich fragte mich, ob das gutgehen würde und trat das Gaspedal durch bis zum Anschlag. Mir war es in diesem Moment vollkommen egal, ob man mich blitzen würde. Ich wagte es kaum, mich zu bewegen. Jedes Schlagloch, da war ich mir sicher, würde eine Katastrophe in meiner Hose auslösen. Nur noch meine notwendigsten Lebensfunktionen sorgten dafür, dass ich bei Bewusstsein blieb. Wie in Trance nahm ich die Auffahrt zum Rastplatz. Ich fuhr direkt bis vor die Tür, auf dem mit großen schwarzen Buchstaben stand: „WC und Dusche.“ Am liebsten wäre ich mit dem Auto durch die Tür, bis direkt in die Toilette gefahren.
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