Jules beugt sich über mich und auf seinem Gesicht sehe ich das traurige Lächeln aus unserer Kindheit. Ein gequältes Lächeln, das sagt: Kopf hoch, Julie. Es wird schon . Er verspricht mir mit Tränen in den Augen, dass er bei mir bleibt. Dass er mich nicht verlässt und mich liebt. Seine Arme zittern, während er mich verbissen festhält, und ich atme seinen Duft ein, der mir die Angst vor dem Sterben nimmt. Ich fühle etwas, das es lange Zeit nicht gab. Einen Hauch von Glück.
Wie eine Blume.
Und wie ein Herz.
Ach, Jules. Ich habe es versaut und werde dich nicht mehr unterstützen können, wenn die Welt zusammenbricht. Ich bin tot und das ist allein meine Schuld. Verdammt, ich wusste, dass meine große Klappe mich eines Tages ins Grab bringen wird. Aber so schnell? Und gerade dann, wenn ein Wunder geschieht?
Universum, ich habe dich oft beschimpft und sage es liebend gern noch einmal: Du bist eine dumme Sau .
Ich träume von meinem Bruder. Von diesem einen Moment, kurz bevor ich sterbe. Der Traum endet an der Stelle, an der Jules seinen Mund öffnet, um etwas zu sagen. Genau dann spüre ich den brennenden Schmerz und der Ablauf wiederholt sich - erlöst mich von den Qualen. Jules’ Lächeln ist alles, was mir bleibt. Wie gesagt: Nicht die schlechteste Wiederholung, wenn man in einer Spirale gefangen ist.
Es ist wieder soweit. Die Bilder spulen sich von Neuem ab, dieses Mal ist es jedoch anders. Ich spüre es, obwohl ich tot bin und nichts mehr wissen sollte. Es ist nur ein vages Gefühl, aber es reicht aus, dass mir kalt wird. Dieses Mal fürchte ich mich, als ich Jules’ Lächeln und die dicken, runden Tränen betrachte, die seine Wangen hinunterrollen. Kein Mitgefühl, nur die Gewissheit, dass mir etwas Unheilvolles bevorsteht. Eine seiner Tränen tropft auf meine Wange. Seine Arme zittern, sie schütteln mich regelrecht durch und als er seinen Mund öffnet, ahne ich, dass der Traum sich nicht wiederholen wird. Jules’ Lächeln bleibt und der Schmerz ist unbeschreiblich, als er seine Zähne in meinen Arm schlägt.
Ich möchte um Hilfe rufen, aber wer soll mich retten, wenn mein eigener Bruder mich töten will? Ich versuche zu schreien, aber alles, was ich höre, ist ein Wimmern und dann geschieht etwas Merkwürdiges: Jules verschwindet. Was man vom Schmerz leider nicht sagen kann. Ein reißendes Gefühl breitet sich in meinem Brustkorb aus und als ich die Augen öffne, höre ich einen Schrei. Meinen.
Wo auch immer ich bin, es ist stickig und warm. Ich bekomme keine Luft und mit jedem schweren Atemzug habe ich das Gefühl, Staub in meine Lunge zu saugen. Ich huste, blinzle und versuche, mich zu orientieren.
Wo bin ich? Was …? Was … geschieht mit mir?
Meine Augen tränen, das Blut rauscht in meinen Ohren und ich höre nichts als meinen eigenen Atem.
Jules? O Gott, wo bin ich nur?
Meine Hände kribbeln und abgesehen vom Schmerz schnürt mir die aufkommende Panik den Brustkorb enger. Mittlerweile bin ich klitschnass geschwitzt und frage mich hechelnd, ob das die Hölle ist, von der meine Mutter immer gesprochen hatte, wenn sie über ihr Leben klagte.
Ächzend rutsche ich ein Stück nach unten – jede Bewegung ist eine zu viel – und höre ein Rascheln. Ich schrecke zusammen und stelle erleichtert fest, dass ich selbst das Geräusch verursacht habe.
„Nicht durchdrehen, Julie“, ermahne ich mich. Meine Stimme klingt rau und trocken, aber sie ist vertraut. Ein Anker.
Mir wird schwindlig, also beschließe ich, lieber klein anzufangen. Ich taste neben mich und fühle Stoff auf einer weichen Oberfläche. So weit, so gut. Ich schätze, ich liege auf einer Matratze mit einer Decke, rau, geruchslos und gestärkt.
„Wie kuschlig“, murmle ich und versuche, die Decke mit den Füßen abzustreifen. „Das ist ja wie im Krankenhaus. Schrecklich.“ Es klappt nicht, also klemme ich die Decke zwischen meine Füße, muss aber einsehen, dass ich nicht genug Kraft habe. Es ist keine gute Idee, es weiter zu versuchen. Ich lege eine Pause ein.
„Also gut, immer mit der Ruhe, Julie.“ Selbstgespräche hatte ich lustiger in Erinnerung. Ach nein, das waren ja meine anderen verrückten Stimmen, die mich jetzt im Stich lassen.
Ich kneife die Augen zusammen, blinzle und wische mit der Schulter mein Gesicht trocken. Langsam lichtet sich der Schleier und Ruhe verdrängt die Panik. Eine gute Gelegenheit, meine Umgebung näher zu betrachten.
Mein Kopf rollt nach links und das erste, was in mein Blickfeld fällt, ist ein Kleiderschrank, geschmackvoll in Kotzgrün gehalten, mit offenen Fächern, in denen Handtücher und andere Stoffstapel liegen – aus meiner Perspektive schlecht zu erkennen. Daneben ist eine Tür, leider geschlossen, und ein Stück weiter entdecke ich noch eine. Ob sie auf einen Flur führt, in Richtung „irgendwohin“?
Ich fühle mich nicht belastbar genug, um es herauszufinden, und drehe meinen Kopf nach rechts, vorbei an der weißen Wand mit Raufasertapete und einem Bild, auf dem eine breite Brücke umgeben von Nebel zu sehen ist. Der Abgrund darauf wirkt unendlich – verschlingend – und ich blicke mich lieber weiter um.
Rechts von mir in der Ecke stehen am Fenster ein Tisch und zwei Stühle, beide leer. Gott sei Dank, ich bin nicht in Stimmung, Besuch zu empfangen. Es ist Tag und die Sonne scheint ins Zimmer. Eigentlich schön, wenn ich wüsste, wo ich bin. So fühle ich mich nur schutzlos, ängstlich und allein.
„Ich … ich lebe, gottverdammt“, murmle ich und rutschte ein Stück nach oben. Das war wieder eine Bewegung zu viel und ich beiße mir vor Schmerz auf die Unterlippe.
Ich schmecke Blut; ein weiterer Beweis, dass ich den Löffel noch nicht abgegeben habe. Ich kann mich nicht entscheiden: Soll ich lachen oder heulen?
Meine Hand berührt etwas Kaltes und erst jetzt bemerke ich einen kleinen Rolltisch direkt am Kopfende des Bettes. Eine Flasche Wasser steht darauf. So etwas sieht man nur im Krankenhaus.
Und was ist das? In meiner Hand steckt eine Kanüle, verbunden mit einem Schlauch, der am Tropf endet. Sieht professionell aus, lindert jedoch nicht die Schmerzen. Einen kurzen Moment überlege ich mir, das Ding selbst zu entfernen, aber das verschiebe ich auf später.
„Okay, ein Krankenhaus. Ich hab’s ja gleich geahnt. So ein Mist. Oder nicht? Ist das jetzt was Gutes oder was Schlechtes?“
Niemand antwortet mir. Damit habe ich allerdings auch nicht gerechnet. Wenn das ein Krankenhaus ist, dann wird irgendwann jemand kommen, um nach mir zu sehen, schließlich bin ich eindeutig nicht allein hierhergekommen. Auf diesen Besuch muss ich mich vorbereiten.
„Wasser, ja, Wasser ist erst mal eine gute Idee.“
Ich hebe meinen Arm, ächze und stöhne dabei, versuche es ein kleines Stück weiter und stelle frustriert fest, dass das Wasser genauso gut im Weltall schwirren könnte.
„Ach Mann, Jules, wo bist du nur?“, maule ich und verkneife mir die Tränen. „Ich liege weiß Gott wo, bin ein absoluter Pflegefall und zum Sterben hier vergessen worden. Das ist doch einfach nur zum …“
„Na komm, Püppi, ich helfe dir.“
Mir fehlt zwar die Kraft, an das Wasser zu gelangen, aber ich bin in der Lage, zu schreien. Und das sehr laut.
Wie aus dem Nichts erscheint ein Mann. Ein Mann, der enorme Ähnlichkeit mit Bob Baker hat. Aber er kann es unmöglich sein.
Bobby Bear, so durften mein Bruder und ich ihn nennen, ist tot. Und ich muss es wissen, war ich doch diejenige, die ihn erschossen hat, weil er sich in einen Zombie verwandelte. Das war damals am Motel. Ein weiteres dunkles Kapitel in meiner Geschichte. O mein Gott, Zombies … Mein Gehirn kommt langsam auf Touren. Die Scheißer hatte ich für einen winzigen Augenblick ausgeblendet.
Fakt ist: Mein Freund lebt nicht mehr und tausend Tränen sind meine Zeugen. Dennoch steht er am Fußende, betrachtet andächtig das grässliche Bild und nimmt von meinem Gezeter und Geschrei kaum Notiz.
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