‚Caroll-Lynn‘. Ein zauberhafter Name. Er hatte ihn unter Umgehung der Dienstvorschriften schnell im Computer gefunden. Ein apart klingender ungewöhnlicher Doppelname, einfach hinreißend. Auch die anderen Informationen, die er zusammengetragen hatte, stimmten ihn froh. Sie war unverheiratet, und ihr Geburtsdatum kannte er auch. Vor gut zwei Wochen hatte er einen seiner Einkäufe genutzt, um sie unter Aufbietung all seines Mutes für den fünften Juni, dem Tag von „Soulac 1900“ zu einem Restaurantbesuch einzuladen. Ausgesucht hatte er auf Anraten von Gérard Bréton das Lokal ‚Aux Huitres Joyeuses‘ in Port de St. Vivien. Das Restaurant lag zwar etwa 20 Kilometer von Soulac entfernt, aber dort hoffte er, bei seinem ersten Rendezvous auf nicht allzu viele Soulacaiser zu treffen. Die waren ja in Soulac selbst beschäftigt.
Er stand aus seinem Sessel auf, trat vor den Spiegel, rückte seine Krawatte zurecht. Anzug, weißes Hemd, Krawatte und schwarze Halbschuhe waren sein Markenzeichen, wie er fand. Dass das halbe Polizeipräsidium sich über diese Steifheit amüsierte, war ihm noch nicht zu Bewusstsein gekommen. Ihm hingegen schien dieses Outfit am besten geeignet, seine Jugendlichkeit und berufliche Unerfahrenheit auszugleichen. Er wollte Würde ausstrahlen. Um 13.00 Uhr würde er, der Kommissar, sich auf der Strandpromenade bei der Freiheitsstatue mit einer bezaubernden Frau treffen.
In einem Anfall von Keckheit nickte er sich aufmunternd zu, erschrak aber sofort wieder. Ihm war selbst nicht ganz klar, ob es der Schreck über seine Keckheit war oder der Lärm der tutenden Dampflok, der in diesem Moment vom Bahnhof her durch das geöffnete Fenster seines Büros herüber schallte. Einen kurzen Moment lang schien es dem Kommissar, als ob er noch ein anderes Geräusch gehört hätte, das einer Explosion. Er blickte auf die Uhr. Es war 12.29 Uhr.
Martine de Baroeuil warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, der mit einem Klebestreifen an der Blechwand des Containers befestigt war. In diesem ‚Blechkasten‘, wie sie es nannte, hatte sie seit drei Monaten ihr „Büro“ aufgeschlagen. Der Container befand sich auf dem Parkplatz vor dem Appartementhaus mit dem Namen „Le Fanal“ am Ortsende von Soulac sur Mer, gleich neben dem Casino. Das Haus war seit über einem Jahr wegen Einsturzgefahr zwangsgeräumt, da die Winterstürme immer mehr Strand fortgespült hatten und das Wasser nun die Fundamente zu unterspülen drohte.
Für den heutigen Tag war sie besonders vorbereitet. Deshalb galt auch noch einmal ein Blick ihrem Makeup, bevor sie sich auf den Weg ins Ortszentrum machte. Ihr Auftritt sollte perfekt werden. Was sie sah, stellte sie durchaus zufrieden. Natürlich, man sah ihr an, dass sie nicht mehr zwanzig war, aber die Haut war faltenfrei, der Teint makellos, die schlanke Figur bestens erhalten. Mit nur 163 cm war sie zwar klein, doch sprühte sie nur so vor Energie und Kampfeslust. Die Stadtoberen sollten heute ihr blaues Wunder erleben. Niemals im Jahr war die überregionale öffentliche Aufmerksamkeit so groß wie an dem Festtag „Soulac 1900“. Dieses mediale Interesse würde sie zu nutzen wissen.
Ihre Vorbereitungen hatte sie getroffen, wie sie mit einem grimmigen Blick auf das Gebäude hinter dem Container innerlich feststellte. Eine Martine de Baroeuil ließ sich nicht so einfach austricksen. Wenn sie auch nach über dreißig Jahren in den Augen der Einheimischen immer noch eine Zugereiste aus dem Norden war, eine „Sch’ti“, sie würde sich nicht einfach so unterkriegen lassen. Sie hatte damals den Versprechungen der Bauunternehmer und den örtlichen Behörden vertraut, als diese Mitte der 1960er Jahre eine großartige Planung für die Zukunftsentwicklung von Soulac sur Mer vorgestellt hatten. Über 1400 Wohnungen mit zugehöriger Infrastruktur sollten zwischen dem Casino am südlichen Ortsrand von Soulac und dem Fußballstadion aus dem Boden gestampft werden. Jenem Stadion, in dem damals sogar der in der ersten französischen Liga spielende renommierte Fußballclub ‚Girondiens Bordeaux‘ regelmäßig sein Sommertrainingslager aufschlug. Dazu sollten Geschäftszentren mit Dienstleistern aller Art, die in einem modernen Badeort für die Versorgung und die Erfüllung aller Bedürfnisse einer wachsenden Zahl von Dauereinwohnern und Touristen erforderlich waren, zwischen dem Casino am südlichen Ortsrand von Soulac und dem Fußballstadion entstehen.
Das erste Gebäude des Großprojektes, ein Wohnblock mit insgesamt 72 Wohneinheiten, war am Strand direkt neben dem Casino errichtet worden. Ältere Einwohner von Soulac sur Mer sahen das Projekt mit Skepsis. Ihre Bedenken wurden jedoch als die der ewig Gestrigen von den herrschenden Meinungsmachern in Soulac sur Mer beiseite gewischt. In der allgemeinen Euphorie der Aufbruchsstimmung taufte der damalige Bürgermeister das Objekt unter dem freundlichen Beifall des Bauherrn und der ersten neuen Eigentümer auf den Namen „Das Fanal“. Das Projekt sollte ein Weckruf für die ganze Region sein.
So hatte Martine de Baroeuil sich von ihren Brüdern, die im Norden nahe bei Lille einen Dachdeckerbetrieb führten, auszahlen lassen und das Geld in vier Wohnungen des ersten Bauabschnittes investiert. Drei der Wohnungen wurden für sie von einer ortsansässigen Agentur vermietet, was ihr ein gutes Einkommen ohne Aufwand über die Jahre hinweg gesichert hatte. Die vierte Wohnung mit einem wunderschönen Blick auf den Strand bewohnte sie selbst.
Das Gebäude lag direkt am Strand, sogar noch vor der vierspurigen Strasse, die als allererstes und deutlich sichtbares Zeichen des Umsetzungswillens dieses Zukunftsplanes von der Gemeinde gebaut worden war. Jahrelang war ihr persönliches Konzept aufgegangen. Die Vermietungen liefen reibungslos. Allerdings wurde schon kurz nach Fertigstellung des ersten Gebäudes klar, dass die Gemeinde den überaus ehrgeizigen Entwicklungsplan nicht weiter verfolgen würde.
Die erforderlichen Investitionen in die Infrastruktur waren erst gekürzt, schließlich ganz gestrichen worden. Die Stadtpolitiker hatten das Projekt still und heimlich begraben. Um ihr Gesicht zu wahren, hatten sie einen Investor gesucht, der das Projekt übernehmen sollte. Das ganze Projekt war in nichtöffentlicher Sitzung des Rates der Stadt an einen amerikanischen Investor verkauft worden, der sich in Soulac sur Mer niedergelassen hatte. Dieser hatte den Zuschlag für ein lächerlich geringes Gebot erhalten. Und der hatte tatsächlich dieses erste Gebäude, ‚Das Fanal‘, hochgezogen. Spötter meinten allerdings schon damals, dass der Name ein negatives Omen sei und das Gebäude eher an die Wohnblocks des Sozialen Wohnungsbaus in den Vororten von Paris erinnere, als an die luxuriöse Landmarke eines zukunftsweisenden Projektes. Nach außen hin hatte man das Projekt auch noch zu allem Überfluss als Zeichen gelungener französisch - amerikanischer Zusammenarbeit verkauft. Schließlich hatte der neue Eigentümer als amerikanischer Soldat in der Festung ‚Les Arros‘ in Soulac sur Mer seinen Militärdienst absolviert und war anschließend in Frankreich geblieben. Das Projekt sei, hatten die Stadtoberen sogar dreist verlauten lassen, also sozusagen in einheimischen Händen geblieben.
Martine de Baroeuil sah sich um. Wo war ihr Kampfgefährte Ludovic? Kampfgefährte, weil auch er den drohenden Verlust seiner Wohnung nicht einfach so hinnehmen wollte und mit seiner Körperkraft für Martine eine notwendige und willkommene Unterstützung darstellte.
Sie winkte ihn heran. Gemeinsam schoben sie die Türflügel des Containers zu. Den Container hatte ihr der damalige Investor Ben Hastings zur Verfügung gestellt, zu dem sie trotz der jüngsten Ereignisse immer ein distanziert-freundliches Verhältnis gepflegt hatte. Der konnte schließlich nichts dafür, dass sich in den letzten fünf Jahren die Meeresströmungen derart verändert hatten, dass ihr Gebäude nun akut gefährdet war. Das hatten andere zu verantworten, die undurchsichtige Beschlüsse zum Küstenschutz in den Vororten gefällt hatten. Außerdem verband sie beide die latent spürbare Ablehnung durch die Einheimischen, von denen sie beide als ‚Zugereiste‘ nie wirklich akzeptiert worden waren.
Читать дальше