Damit der Autokorso überhaupt etwas hermachte, hatte er, Bernard Marens persönlich, Himmel und Hölle in Bewegung setzen müssen, um Pirmin Bügel aus Pauillac dazu zu bewegen, mit einigen seiner Clubmitglieder an dem soulacaiser Großereignis teilzunehmen.
Bügel stammte ursprünglich aus der Schweiz. Dort war er viele Jahre lang als verantwortlicher Chemieingenieur in der Geschäftsleitung eines bedeutenden europäischen Chemiekonzerns tätig gewesen. Nach einem großen Chemieunfall mit gewaltiger Umweltbelastung für die Region am Oberrhein war er dort gegen eine beachtliche Abfindung aus seinem Job ausgeschieden und hatte sich als Besitzer eines großen Weingutes im Haut Médoc niedergelassen. Neben dem Wein hegte er als Sammler eine große Leidenschaft für alte Autos. So organisierte er jedes Jahr im Juli das größte Oldtimertreffen im Médoc, zu dem in der Regel bis zu 400 Besitzer alter Liebhaberfahrzeuge aus dem ganzen Land nach Pauillac anreisten. Obwohl Bügel, ein hagerer, hoch gewachsener, stets braun gebrannter und gut aussehender Mittfünfziger weithin als versnobt galt, hatte dieser schließlich eingewilligt und die Teilnahme von zehn Clubfreunden zugesagt. Ihm hatte Marens dafür extra versprechen müssen, dass Bügel den Autokorso anführen würde. Und nun das! Dieser verdammte Hastings! Er riss sein Funkgerät aus der Tasche und brüllte Anweisungen in das Mikrofon.
Die Kapelle näherte sich bereits dem Bahnhof. In der Ferne hörte man bereits das Tuten der alten Dampflok. Dumm, dass seine Ordner ihn bei dem ganzen Lärm kaum verstehen konnten.
Schließlich schien jemand ihn verstanden zu haben, denn ein Ordner sprang mit ausgebreiteten Armen vor den alten Citroen. Hastings stoppte. Die Kapelle zog weiter. Es entstand eine Lücke im Festzug. Der Ordner versuchte, die Cheergirls an dem Auto vorbeizuwinken.
Die junge Cheerleaderin verstand seine Armbewegung falsch und gab ihrer Gruppe Anweisung, auf der Stelle zu wenden und ein Spektakel für die Zuschauer am Straßenrand aufzuführen. Auf Zeichen ihrer Anführerin wendeten die Girls und zogen auf der Stelle aneinander vorbei, so dass sie jetzt in Gegenrichtung formiert waren. Dann warf sie ihren Stock in die Höhe, worauf die Gruppe sich zu einem Kreis formierte.
Schließlich trat der Ordner einen Schritt neben das Auto und ruderte mit dem linken Arm, um die Tanzgruppe an dem Auto vorbeizuleiten. Dieses Zeichen verstand der Autofahrer falsch. Er gab wieder Gas, um Anschluss an die Kapelle zu gewinnen, die inzwischen gut 100 Meter Vorsprung hatte. Dabei fuhr er mit vollem Tempo über die Bodenschwelle an der Straßenkreuzung kurz vor dem Hôtel de la Gare.
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Dampf zischte, die Lok tutete ohrenbetäubend, der Knall der Explosion war fast nicht zu hören. Es war 12.29 Uhr.
Thomas Moulin, erster und einziger Kriminalkommissar in Soulac, lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück. Die Lehne gab unter dem Druck nach, und er verschränkte seine Hände hinter dem Nacken. Während er Rücken und Schultern durchdrückte, schloss er seine Augen. Ein wohliger Schauer durchlief ihn. In dem Moment konnte er nicht sagen, ob es lediglich die Dehnübung war, die ihm so gut tat, oder ob es nicht doch die Gedanken waren, denen er gerade nachgehangen hatte. Gedanken an eine hübsche junge Frau, die er vor längerer Zeit kurz einmal in der Pizzeria „Chez Gonzo“ in l’Amélie gesehen hatte. Diese diskret aufzuspüren hatte einen Teil seiner kriminalistischen Aktivitäten im letzten Jahr ausgemacht.
Obwohl sein Dienstantritt in Soulac sehr spektakulär begonnen hatte, war das Leben des Kriminalkommissars für den Rest des Jahres beschaulich und ruhig verlaufen. Vor einem Jahr war er nach Soulac sur Mer auf seine erste Stelle nach der Ausbildung versetzt worden. Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit hatte er einen verzwickten Fall zu lösen gehabt, den er nur mit Hilfe des pensionierten ehemaligen Kriminalbeamten und Urlaubers Gérard Bréton letztlich hatte lösen können.
Um sich bei diesem zu bedanken hatte er Bréton und dessen Frau, das „Cremeschnittchen“, wie Bréton seine Frau zu nennen pflegte, in die Pizzeria eingeladen. Dort war plötzlich eine auffällig schöne Kundin aufgetaucht und hatte bei dem Pizzabäcker Sylvain zwei Pizzen zum Mitnehmen in Auftrag gegeben.
Spontan hatte Moulin sich im Stillen gewünscht, derjenige zu sein, für den die zweite Pizza bestellt wurde. Da die Frau an der Ausgabe im Gastraum wartete, hatte er, Moulin, viel Zeit gehabt, sie trotz seines Gesprächs mit Bréton zu beobachten. Dies musste er wohl sehr auffällig getan haben.
Sylvain, der Pizzabäcker wirbelte in seiner Pizzabackstube. Mit hoch gezogenen Schultern, abgewinkelten Ellenbogen und tief nach vorne über den Tisch gebeugt, breitete er die Pizzaböden aus und verteilte in sehenswerter Geschwindigkeit Tomatensoße, Käse sowie die jeweils gewünschten Zutaten darauf aus. Zwischendurch zauberte er dann und wann ein fröhliches Lächeln auf sein wettergegerbtes Gesicht. Die Stirn unter dem lockigen schwarzen, allerdings inzwischen von einigen grauen Fäden durchzogenen Haar legte er bei seiner Arbeit vor lauter Konzentration in Falten, während er die Temperatur und den Zustand der im Ofen befindlichen Pizzen kontrollierte.
Ihm war tatsächlich aufgefallen, dass der Gast auffällig oft zu seiner Kundin herüberblickte. Es machte ihm Spaß, den Gast spitzbübisch anzulachen und, ohne dabei seine geschäftige Pizzazubereitung zu unterbrechen, mit aufmunternden Kopfbewegungen aufzufordern, Kontakt mit der jungen Dame aufzunehmen.
Gleichzeitig aber sah Moulin auch, dass die Inhaberin des Restaurants, deren Augen ständig wachsam durch den Restaurantbereich schweiften, ihn missbilligend beäugte. Madame Gonzo, vor über 30 Jahren aus Neapel gekommen und seitdem in Soulac ansässig, war im Grunde ihres Herzens eine typische italienische Mamma geblieben. Aber sie sah einfach alles. Schließlich blieb ja auch, wie sie es sah, die ganze Verantwortung an ihr hängen. Madame musste auf das Geld aufpassen, auf ihren Sylvain achten, das Wohl der Gäste im Auge haben und das Personal antreiben.
Sie scheuchte die jungen Kellnerinnen mit knappen Gesten und Blicken durch das Lokal, dass diesen kaum einmal Zeit zum Durchatmen blieb. Mamma Gonzo war sowieso der Ansicht, dass die jungen „Dinger“, wie sie die Mädchen insgeheim nannte, tagsüber viel zu viel Zeit hatten, am Strand herumzulungern und mit den jungen Burschen zu flirten. Und wie die zur Arbeit erschienen! Knappe enge längs gestreifte Hosen, dazu Oberteile, die an Schicklichkeit in ihren Augen erheblich zu wünschen ließen.
In seiner Schüchternheit hatte der Kommissar die Gelegenheit zunächst verstreichen lassen, was ihn in der Folgezeit aber zu kriminalistischem Eifer angespornt hatte, denn die Gedanken an die schöne Frau gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er wollte sie gerne näher kennen lernen.
Schließlich hatte der Kommissar sie gefunden. Ihr gehörte in Soulac sur Mer die Weinhandlung ‚Les Caves du Prince Noir‘. Moulin hatte sich in seiner Schüchternheit bemüht, unverfänglich vorzugehen. Obwohl er als gebürtiger Elsässer eigentlich lieber Bier trank, kaufte er fortan Wein im Les Caves du Prince Noir. So konnte er sie über einen längeren Zeitraum immer wieder sehen und kurz sprechen. Dabei waren die Gespräche allerdings höchst kurz und inhaltlich völlig neutral. Erst mit der Zeit, als im Winter das Geschäft ruhiger lief, kam es zu ausführlicheren Gesprächen. So ließ er sich ausführlich beraten und lernte nebenbei eine Menge über den Weinanbau im Medoc.
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