Ein Lastwagen wirbelt eine lange Staubfahne auf und zieht sie hinter sich her, wie wenn die staubige Landstraße hier zum Selbstverständnis gehöre. Für die Bahn gibt es neue Gleise und eine neue Oberleitung. Baustellen verlangsamen die Fahrt, die aber bald auf europäisches Eilzugstempo beschleunigt sein wird. Bagger haben schon tiefe Wunden in den Boden gegraben. Eine neue Kulturlandschaft entsteht: Dämme wie mit dem Lineal gezogen, Betonpfeiler, die niemand mehr von der Stelle rücken wird, Eisenträger, die silbern vom Zink glänzen, anstatt mit dem rostbraunen Herbstlaub verstecken zu spielen. Schotterhaufen warten darauf, abgetragen und gleichmäßig verteilt zu werden, und in Gräben liegen bunte Rohre und Kabel, deren Farben wohl ihren Inhalt angeben und den Baggern der fernen Zukunft sagen sollen: Hier liege ich, zerstör mich nicht!
Die Baustellen bringen die Fahrpläne durcheinander. Sie werden von den Fahrplangestaltern und Auskunftgebern ignoriert wie die höhere Gewalt einer Überschwemmung oder eines Erdbebens. Verspätungen sind ein Charakterzug des Verkehrs, die Bahnhöfe haben auf ihren Ankündigungstafeln eigene Rubriken dafür vorgesehen. Schließlich ist der Reisende froh, gut angekommen zu sein. Was macht da eine kleine Verspätung, meist nicht mehr als ein paar lumpige Prozent der ganzen Fahrzeit?
Brünn taucht auf, zunächst wie auf einer Bühne an einer Hügelkette sanft angelehnt, auf welche die tief liegende Herbstsonne wie ein Scheinwerfer strahlt. Hohe Masten wölben sich schützend über ein Betriebsgelände und wieder sperrt ein riesiger Bahnhof sein Maul auf, mit Unkraut und Sträuchern, aus welchen rostende Waggons ragen und sich gegen das Überwachsenwerden gerade noch wehren können. Brünn hat auch breite Straßen und viel unverbautes Gelände an der Peripherie. Die Bahn kommt dicht an das Zentrum heran. Der Dom steht am höchsten Platz und strahlt Standfestigkeit aus gegenüber den ständig herein und hinaus polternden Zügen.
Hier steigen auch Fahrgäste zu. Es gibt noch nicht so viele Autos. Die Bahn hat noch ihren festen Platz im Leben der Menschen, nicht nur im Nahverkehr. Unheimlich geduldige, ja teilnahmslose Gesichter bevölkern die Bahnsteige, abwesende Gedanken sind zu lesen, schon am Reiseziel angekommen, oder vielleicht noch an dem hängend, was sie gerade verlassen haben. Dazu gesellen sich viele verfallende Betriebsgebäude, Zeugen aus einer anderen Zeit, als eine Fabrik noch etwas galt und nicht nur der Markt, dieses unsichtbare und doch allgegenwärtige Gespenst, das so schnell wieder verschwindet, wenn man es gefasst zu haben glaubt.
Nirgends präsentieren sich die Hüllen von Lokomotiven so rostig wie auf den Abstellgleisen hier. Sie scheinen nicht begreifen zu wollen, dass das Zeitalter der Furcht einflößenden Kolosse dem Zeitalter der Verkleinerung durch Elektrik und Elektronik gewichen ist. Dann plötzlich ein Durchblick auf einen Platz in der Vorstadt mit einem Exemplar der schönsten, saubersten, flottesten Straßenbahn! So prallen alte und neue Zeiten aufeinander. Neues nistet sich ein in das rostende Chaos, unaufhaltsam, langsam, aber beschleunigend.
Hinter Brünn führt die Trasse der Bahn bald in ein Tal, das man altmodisch als lieblich beschreiben könnte. Ein sanfter Einschnitt in eine Hügelkette, Häuser, die sich bald zu Dörfern zusammendrängen, sich bald vereinzelt an einen Hang schmiegen, Felder und Wiesen, wo der Talgrund breit genug dafür ist – und immer bunteres, dunkleres Herbstlaub zeugt von rauerem Klima. Fischteiche, Friedhöfe, Gartenhütten, Obstgärten, Hühnerställe und einsame Fabrikanlagen ergeben eine kuriose Mischung der Spuren menschlichen Treibens. Fernsehantennen, die meisten hoch wie Spinnennetze auf den Dächern, aber auch schon Schüsseln, die in den Weltraum hinausschauen können und von dort die irdischen Geschichten im Land verteilen.
Kurim, Tišnov und andere Kleinstädte, auf die der Reisende vom erhöhten Bahndamm hinunterschaut, kommen und gehen. Dazwischen drücken sich viele kleinste Dörfer in Talschneisen zusammen, fast genauso wie im Wienerwald. Manchmal erscheint auch ein Bahnhof, der zu keinem Dorf zu gehören scheint, aber die gleichen verrosteten Waggons am Gebüschrand beherbergt wie seine großen Brüder. Immer öfter verschwindet die Sonne hinter den Hügeln, wie wenn sie mit den Reisenden spielen wollte, und auf einmal bleibt sie ganz verborgen.
Jetzt kommt die Zeit der Lichter, der Laternen, der Autoscheinwerfer, die ihre Arbeitsschicht antreten. Am Fensterplatz wird es erst recht verwirrend. Denn Durchblick auf die Landschaft und narrende Spiegelungen im Fenster wechseln einander in kurzen Rhythmen ab. Bald erliegt der Reisende dem tollen Treiben und blendet sich aus, die Augen schließend, sie bei jedem neuen Geräusch wieder aufschlagend, dem Abenteuer wiedergewonnener Aussicht nachjagend, wieder zurückfallend in unruhiges Dahindämmern, bis die Lichter der Großstadt das Ende der Reise ankündigen.
Bin losgerannt,
weil mein Verstand
in Moll und Dur
Neues erfuhr.
Hat über Nacht
Schnee gebracht.
Löschte die Spur
nach letzter Fuhr.
Kam in das Land,
so unbekannt,
hab dich gesucht
und dir geflucht.
Hier ungeahnt,
weisend dich fand.
Zagendem Blut
wuchs neuer Mut.
Aus dunkler Nacht
rief mich mit Macht
dein sanfter Kuss
zum guten Schluss.
Der Wald droht immer dunkler
und dornig das Gestrüpp.
Wo führt der Weg, den ich gewählt
mit all der Zuversicht der Jugend?
Ich sehe ihn nur hinter mir.
Geleite mich zurück zur Gabel!
Dort will ich nochmals wähnen,
ob nicht der andere taugte,
wo in der Ferne die Zitronen blühn,
im dunklen Laub die Goldorangen glühn.
Kennst du das wohl?
Hier ist die Krümmung wieder!
Doch wüst und dürr die Fluren,
auch dort und da und überall.
Lass uns ein wenig rasten!
Kalt gefühlter Sturm,
du treibst die weiße Herde
hierher und wieder fort.
Kindermorgentraum wird wahr
und straft die Alten Lügen,
die dich als Schreckgespenst
erleben in ihrem Abgesang.
Das dumpfe Flehen erstickt
im dichten Flockentreiben.
Die Jungen hören uns nicht.
Warm gefühlte Sonne,
du machst nach außen blind
und zugleich inwärts sehend,
senkst deine Strahlen
direkt ins Herz hinein
und dehnst es aus
und immer praller
über den Horizont
zu neuen Weiten,
Unendlichkeit verheißend.
Driftet Schlummer nachtwärts,
fällt plump auf tönerne Masken,
zerreißt in tausend Fratzen
zu durstiger Wipfel Ruh,
zerschellt am Felsen Wahrheit,
hängt sehnend Vorgedachtes
an krumm geschlag’ne Nägel
im Vorraum zur Unendlichkeit.
Faselt von Sein und Werden
auf fein gesiebtem Humus,
kracht schallend auf Asphalt,
pflügt Furchen in die Haut.
Geläut der heiligen Glocken
benebelt im buchtigen Luxus
Fratzen von gaffend Greifenden,
stöhnend in wallender Gier.
So dehnt sich Grelles in Fahles
vergessend die sehrende Sendung.
Vorbei am Pendel der Uruhr
beschleunigt das Wort sein Ziel.
Auf wolkigen Polstern schwebend
zerfließt es in deutende Bilder,
wirft Anker auf brechender Woge
und schwappt über dein Deck.
Zur Herberge drängte mein Schritt,
als ich über gischtendes Wasser
hinüber wollte auf festes Land.
Dein Garten samt kühlem Gemäuer
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