Zum Glück konnte ich mir Urlaub nehmen und war nun Tag und Nacht für meine Eltern da. – Es war Herbst, die Dahlien mussten dringend aus der Erde. Also machte ich mich mit meiner Mutter an die schwere Gartenarbeit. Zum Glück nahm es meine Mutter gelassen hin, dass mir dabei die Grabegabel abbrach. Das waren die Alterssanftmut und das Verständnis für solch missliches Ungeschick, die sich bei ihr im Laufe der letzten Jahre für mich entlastender Weise eingestellt hatten. – Es wurde halt eine neue Grabegabel gekauft! Aber nicht nur im Garten war etwas zu tun, meine Mutter war immer beschäftigt und ich ließ mich mit einbinden. Zwei Mal am Tag fuhren wir außerdem ins Krankenhaus. Meinem Vater ging es immer besser, sein Humor kehrte zurück.
Wie bei Oberschenkelhalsbrüchen üblich wurde mein Vater nach kurzem Krankenhausaufenthalt direkt von dort aus in die Reha nach Bad Bevensen verlegt. Und ich bereitete meine Mutter jeden Tag mehr darauf vor, dass ich in den Zeiten der Reha nur am Wochenende bei ihr sein könnte. Die Arbeit wartete, die Kollegen hatten auch nur begrenzt Verständnis für meine Situation!
Jeden Morgen rief meine Mutter bei meinem Vater im Krankenhaus an, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Jeden Morgen musste sie mindestens 3 Mal in ungeheurer Lautstärke ihre Frage nach seinem Befinden wiederholen, bis er es trotz Hörgeräten schwer hörend verstanden hatte. Mein Vater fügte dann laut und deutlich noch die neuesten Informationen aus dem Krankenhaus und vom Befinden seines Bettnachbarn hinzu. Dann war das Gespräch, das ich selbst ein Stockwerk höher in der hintersten Ecke aufgrund der Lautstärke verstehen konnte, beendet. Jeden Abend erkundigte sich meine Mutter darüber hinaus bei der Nachtschwester wegen eventuell aufgetretener Auffälligkeiten und Veränderungen. So war der Informationsfluss weitgehend gesichert, alles unter Kontrolle!
An diesem Freitag morgens früh nun erfuhr meine Mutter davon, dass mein Vater per Krankentransport nach Bad Bevensen kommen sollte. Also musste unser Frühstück noch etwas schneller eingenommen werden, um uns rechtzeitig von ihm verabschieden zu können. Ansonsten war es wie immer das gleiche Ritual, dem ich mich als folgsame Tochter ohne Murren ergab.
Im Krankenhaus angekommen fanden wir meinen Vater schon fertig angezogen wartend in seinem Zimmer vor. – Es wurde ein kurzer Abschied, da ja alles nach überstürzter Abreise sprich schnellem Krankentransport aussah.
Wie üblich erledigten wir die anstehenden Einkäufe dank der Organisation meiner Mutter zügig, so dass wir tatsächlich schon um 11.15 Uhr beim Mittagessen saßen. Das verhieß doch eine vielleicht etwas längere Mittagspause. Ich betete inständig. – Aber leider wurde mein Gebet etwas anders interpretiert.
Um 12 Uhr klingelte das Telefon. Mein Vater war dran und erzählte meiner Mutter einerseits wehleidig andererseits sehr verärgert, dass er immer noch angezogen und abreisebereit in seinem Zimmer im Krankenhaus säße. Zum Glück brauchte mir meine Mutter ja eigentlich keine Gesprächsinhalte mitteilen, da das Telefon sowieso immer auf laut gestellt wurde. Dankenswerterweise berichtete mir meine Mutter trotzdem jedes Mal, was im Telefonat besprochen wurde. Nun ging alles wieder ziemlich schnell. Meine Mutter hatte schon ihren Mantel von der Garderobe gerissen, die Stiefel wollten angezogen werden, die Handtasche lag auch wieder bereit. Also riss ich mich aus meiner aufgekommenen Mittagslethargie und kam gerade noch rechtzeitig, um meiner Mutter in den Mantel zu helfen. Selbst zog ich mich in Windeseile an und schnappte den Autoschlüssel, als meine Mutter schon fast das Haus von außen zugeschlossen hatte. Ich stürzte vorwärts Richtung Auto, damit ich ihr die Beifahrertür noch rechtzeitig aufhalten konnte. Während der folgenden erneuten Fahrt zum Krankenhaus kam meine Mutter nun richtig in Fahrt. Das war ja wohl das Allerletzte einen alten Mann so lange dort angezogen warten zu lassen. Ich konnte ihr nur zustimmen. Ds war einfach nicht in Ordnung.
Ich ließ sie wie gewohnt auf der Auffahrt für Krankentransporte und Taxen aussteigen und sah sie noch mit fliegendem Mantel den Flur entlang tippeln. Als ich endlich nach langer Parkplatzsuche im Zimmer eintrudelte, hatte meine Mutter jeden, den sie gesehen hatte, von dieser unverschämten Warterei in Kenntnis gesetzt. Sie würde nicht eher gehen, bevor endlich der Transport begänne. Mein Vater saß da wie ein Häufchen Elend, ihm war kalt trotz warmer Jacke und er war wahrscheinlich heilfroh, dass meine Mutter nun ordentlich Rabatz machte. Wenig später tat sich dann etwas, Gott sei Dank.
Es ging also zurück in mein Elternhaus, der Kaffee wurde angeschmissen, der Fernseher eingeschaltet, der Tisch war für den Nachmittag ja zum Glück schon seit morgens früh gedeckt. Aber das Wichtigste für meine Mutter war nun das Telefon, um alle Verwandten und Freunde an dieser Ungeheuerlichkeit teilnehmen zu lassen und natürlich an ihrem Triumph der raschen positiven Wende teilhaben zu lassen.
Meine Mutter hatte sich vorsorglich die Nummer der Reha-Einrichtung geben lassen. – Am späten Nachmittag, im Fernsehen kam auch nicht so richtig etwas, war es dann soweit. Meine Mutter rief in der Klinik in Bad Bevensen an und wurde tatsächlich zu meinem Vater aufs Zimmer durchgestellt, der schon mal eine funktionierende telefonische Festnetzverbindung organisiert hatte, sozusagen mit letzter Kraft. Denn als er nun die Stimme meiner Mutter hörte, weinte er wie ein kleines Kind, jammerte, dass er nicht mehr leben wolle, er wäre doch sowieso zu nichts mehr zu gebrauchen, könnte ja noch nicht einmal vernünftig gehen. Er könne nun endlich mit seinen fast 90 Jahren die Depressionen meiner Mutter verstehen. Das wäre ja nicht auszuhalten! - Ich durfte wieder einmal alles live miterleben. Das Telefon war wie immer auf laut gestellt.
Meine Mutter war nun vollkommen aus dem Häuschen. So etwas war ihr in ihren über 60 Ehejahren ja noch gar nicht begegnet. Was war zu tun, um meinen Vater zu retten?!? – Natürlich!!! Sie würde schon irgendwie jetzt am Wochenende zu ihm gelangen und ihn wieder aufbauen. Das hieß stillschweigend für mich übersetzt: Wir beide müssen sofort nach Bad Bevensen aufbrechen. Meine Mutter war quasi schon auf der Treppe, um ihren kleinen Koffer zu packen.
Mit viel ruhiger Ansprache und unter Einsatz sämtlicher zur Verfügung stehender Redemittel und Argumente konnte ich sie davon überzeugen, dass er die kommende Nacht allein überleben würde. Wir könnten ja früh am nächsten Morgen aufbrechen. Widerwillig ließ sich meine Mutter darauf ein. Letztendlich war ihr klar, dass sie allein mit dem Zug auch nicht so schnell dorthin gelangen würde. Und dann hieß es ja, auch für sich selbst für eine Unterkunft zu sorgen. Na ja, und dafür war dann ja ihre Tochter, also ich, doch ganz gut zu gebrauchen.
So buchte ich fürs Wochenende eine Übernachtung im Doppelzimmer für uns zwei in einer kleinen Pension in der Nähe der Reha-Klinik. Wir besprachen, was alles mitzunehmen sei und wann wir am Morgen aufbrechen wollten. – Und einen Augenblick später war meine Mutter am Telefon. Sie informierte meinen Vater über unseren nahenden Besuch, der wiederum mit Tränen erstickter Stimme voller Dankbarkeit auf unseren kurzfristigen Besuch reagierte. Im Anschluss mussten alle Verwandten und Freunde durch meine Mutter wieder telefonisch über den jetzigen Stand der Dinge informiert werden. – So verzögerte sich sogar die Einnahme des frühen Abendbrots. Es war einfach so viel zu bedenken und zu erledigen! – Von unserer Australienreise war keine Rede mehr, nur Worte zu dieser dramatischen schicksalhaften Wende durch den nächtlichen Toilettensturz meines Vaters.
Nach stundenlanger Autofahrt kamen wir am nächsten Tag bei meinem Vater in der Klinik an. Er war zusammen mit einem bettlägerigen todkranken Patienten auf dem Zimmer. Als er uns sah, kamen ihm die Tränen. In unendlicher Dankbarkeit strich er meiner Mutter, die sich sofort auf seine Bettkante gesetzt hatte, immer wieder über die Wangen, drückte sie zärtlich. Ich verdrückte mich unter einem Vorwand. Die Beiden sollten sich ungestört austauschen dürfen. Währenddessen schaute ich mich in der riesigen Klinik um. – Als mein Vater Mittagessen bekam, machten meine Mutter und ich uns auf zu unserer kleinen Pension, packten kurz unsere wenigen Sachen aus, aßen selbst eine Kleinigkeit. Anschließend brachte ich meine Mutter wieder in die Klinik. Und, oh Wunder, mein Vater war emotional schon wesentlich stabiler, hatte sich angezogen und wollte mit dem Rollator mit uns in der Klinik im Cafe ein Stückchen Kuchen essen. – Dann ließ ich meine Eltern wieder allein, schaute mir die Möglichkeiten zur Wellness genauer an. Die Preise waren moderat. Also nahm ich meine Badesachen und genoss einige Stunden der vollkommenen Entspannung mit Schwimmen, Saunieren, ruhen. – Herrlich!!!
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