Noch nicht auf der Auffahrt wurde der Gurt schon wieder gelöst und ich dem erbärmlichen Piepen des Anschnallsignals überlassen. Ich denke, meine Mutter hörte diesen dank ihrer zunehmenden Schwerhörigkeit nicht mehr wirklich. Meine Mutter sprang aus dem Auto, ich hinterher. Die Tür wurde geöffnet, noch im Mantel der vorbereitete Kaffee angestellt. Ich war bemüht mich an den Vorkehrungen meiner Mutter zu beteiligen, konzentrierte mich auf die für sie nächsten wichtigen Schritte, um sie wenigstens ein wenig zu entlasten. Schnell riss ich also den eben fertig gebrühten Kaffee aus dem Automaten, goss ihn in eine andere dafür vorgesehene Kanne, schraubte den Deckel auf und konnte gerade noch rechtzeitig vor meiner Mutter den Kaffeeautomaten für den Nachmittagskaffee präparieren. Dabei hätte ich doch beinahe vergessen, den Schalter der Kaffeemaschine auszustellen.
Ich brachte den fertigen Kaffee an seinen angestammten Platz, allerdings nicht bevor ich meiner Mutter und mir Kaffee in die Tasse eingeschenkt hatte. Mit einem unauffälligen schnellen Blick über den gedeckten Tisch stellte ich fest, dass meine Mutter wie immer an alles gedacht hatte. Ja, leider, wie in Zeiten meiner Kindheit lagen die schon mit Butter beschmierten Brötchenhälften auf meinem Frühstücksteller. Für mich kaum zu ertragen, waren die Brötchenhälften sehr ungleich geschnitten, hauchdünn das Unterteil, dafür um so dicker das Oberteil. Ich hasse das, schluckte aber meinen Ärger ohne Kommentar herunter.
Meine Mutter hatte sich indessen auch hingesetzt, präparierte nun ihre Brötchenhälften mit jeweils Marmelade und Wurst, dann kamen Dosenmilch und Zucker in den Kaffee. Besorgt fragte ich sie, ob denn alles in Ordnung wäre. Beim gemeinsamen Frühstück wurde nochmals der Sturz meines Vaters am letzten Abend erörtert. Dann ging es für meine Mutter um eher praktische Dinge. Mein Vater bräuchte noch einen neuen Ersatzschlafanzug, seine Batterien fürs Hörgerät müssten mit ins Krankenhaus, genauso der Rasierapparat. Zwischendurch kamen ein paar Tränen, ob des weiteren Schicksals. Da meine Mutter aufgrund eines Defekts in der Speiseröhre, wie schon erwähnt, nur noch sehr langsam essen konnte, immer Wasser dazu trinken musste, hatte ich ein wenig Zeit zu entspannen und alles Weitere zu überdenken. Klar war, dass ich noch eine weitere Nacht bei meiner Mutter bleiben würde. Immer wieder, wenn auch kurz, machten sich düstere Gedanken bei meiner Mutter breit. Das hätte doch sowieso alles keinen Sinn. Wer wüsste, ob mein Vater, ihr Mann, jemals wieder aus dem Krankenhaus käme! Also versuchte ich sie so gut es ging zu beschwichtigen und aufzumuntern.
Währenddessen hatte meine Mutter ihr halbes Brötchen aufgegessen und wurde wieder unruhig, schob schon einmal einige Frühstücksutensilien an ihre Seite. Nun hieß es auch für mich aufstehen, möglichst viele Sachen greifen und wieder an ihren richtigen Platz bringen. Trotz ihres hohen Alters war meine Mutter in diesen Dingen noch verdammt schnell. Das Frühstücksgeschirr wurde schnell mit kaltem Wasser abgewaschen und abgetrocknet. Das feuchte Geschirrhandtuch wurde danach wie immer sorgfältig auf der Nachtstromspeicherheizung zum Trocknen ausgebreitet. Dabei schwor ich mir innerlich, in einer ruhigen Minute, wenn meine Mutter schlief, alles mit Spülmittel und kochendem Wasser nachzuarbeiten, um ein Mindestmaß an Hygiene für mich zu sichern.
Nun hieß es aber wirklich rein ins Auto, vorher die Sachen für meinen Vater, die von meiner Mutter schon sorgfältig zurechtgelegt waren, in den Kofferraum zu packen, meiner Mutter die Autotür aufzuhalten, ihr beim Anschnallen zu helfen und zügig loszufahren, bevor meine Mutter ungeduldig einen Spruch loslassen konnte.
Am Krankenhaus angekommen dirigierte mich meine Mutter gleich auf die Auffahrt, da sie ja nicht mehr so gut laufen könnte. Energischen Schrittes ging sie ins Krankenhaus. Meine Aufgabe lag darin, einen Parkplatz zu suchen und mit den Sachen für meinen Vater hinterher zu stiefeln. Sie hatte mir vorher noch Station, Zimmernummer und den Weg dorthin genannt.
Im Krankenzimmer angekommen saß meine Mutter schon mit sorgenvollem Gesicht am Bett meines Vaters. Er war ja in der Nacht noch wegen seines Oberschenkelhalsbruches operiert worden. Entsprechend schläfrig lag er nun im Bett. Da es keine Kommunikation mit meinem Vater geben konnte, außer, dass er signalisierte, alles sei gut, machten wir uns schon kurze Zeit später auf zum Einkaufen. Vorher allerdings musste meine Mutter kurz mit der Krankenschwester sprechen und ihr wegen der besseren Pflege noch eine Kleinigkeit zustecken.
Ich huschte schon einmal davon, um das Auto rechtzeitig am Eingang für meine Mutter vorzufahren. Erst einmal ging es zum Bettengeschäft. Hier wurde für meinen Vater ein Schlafanzug ausgewählt, nicht ohne der Verkäuferin vom Unfall meines Vaters zu erzählen. Ich musste mir unbedingt ein Nachthemd aussuchen und meine Mutter fand auch noch Nachtwäsche. Mittlerweile war sie dabei zu erzählen, dass sie selbst einmal in solch einem Geschäft gelernt und dann gearbeitet hätte.
Die Kartoffeln für das Mittagessen waren schon morgens vorbereitet worden. Kuchen zum Nachmittagskaffee musste allerdings neu besorgt werden, bei der gewohnten Bäckerei.
Als alles minutiös geplant und auf das exakteste erledigt war, ging es schnell nach Hause, damit das Mittagessen rechtzeitig eingenommen werden konnte. Der Mittagstisch war auch schon seit morgens früh gedeckt!
Nach dem Essen endlich hoffte ich auf eine kleine Erholungspause. Denn meine Mutter hielt wie schon immer jeden Mittag für ca. 1 Stunde Mittagsruhe.
Allerdings musste sie nun doch noch beim Abwasch mithelfen und alles genau überwachen. Zum Glück war der Tisch für den Nachmittagskaffee auch schon seit morgens früh gedeckt.
Zwischendurch wurden weiter die Freunde genauestens über den tragischen Unfall meines Vaters informiert. Und immer wieder kamen leicht depressive Schübe zutage, dass nun doch alles keinen Sinn mehr hätte und mein Vater sicherlich bald das Zeitliche segnen würde.
In diesem Zusammenhang vergaß meine Mutter nicht, mir gegenüber zu erwähnen, dass sie an einem geheimen Ort genügend Tabletten gesammelt und zerkleinert hätte, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Allein, ohne meinen Vater könnte sie wirklich nicht existieren!
Leider war es nach einer guten halben Stunde mit der Mittagsruhe meiner Mutter vorbei. – Der Kaffeeautomat wurde angeschmissen, der Kuchen auf den Tellern verteilt. Meine Mutter wollte ihre Lieblingsserien im Fernsehen beim Kaffee sehen. Leider legte sie schon immer sehr viel Wert darauf, dass ich daran aktiv teilnehme, also wieder keine Auszeit. Dann war es soweit: Schnell alles abräumen, abwaschen, alles fürs Abendbrot hinstellen, Mantel überziehen, Handtasche mitnehmen. Bei all dem versuchte ich erneut so gut es ging sie zu unterstützen. Los ging die erneute Fahrt zum Krankenhaus.
Mein Vater war nun deutlich wacher, hatte auch schon Kaffee getrunken und ein kleines Stück Kuchen verzehrt. Das Essen war gut! Allerdings teilte er meiner Mutter voller Entsetzen mit, dass der Dienst habende Arzt ihn gefragt hätte, aus welchem Altersheim er komme. Und das in seinem Alter mit Ende achtzig und bei seiner geistigen Fitness. Das war nun wirklich die Höhe. Meine Mutter konnte ihm nur zustimmen.
Zu Hause wurde wieder mit Gott und der Welt unter anderem auch mit Australien telefoniert und unser geplanter Aufenthalt von meiner Mutter schon mal nicht nur infrage gestellt, sondern erst einmal abgesagt. – Ich allerdings hielt die ganzen Flugbuchungen erst einmal aufrecht. Nach Auskunft der Ärzte sollte mein Vater zum Reisezeitpunkt wieder fit sein. Meine Mutter jedoch jammerte mir immer wieder vor wie schrecklich alles sei und dass es das Beste wäre, wenn sie sich umbrächte. Trotz regelmäßiger psychotherapeutischer Sitzungen und Medikamente konnte meine Mutter nicht allein bleiben, oder wenn, dann nur für einen kurzen Zeitraum.
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