1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Über den Garten legte sich die Dämmerung. Die Vögel wurden ruhig und nur ab und an war ein Zirpen zu vernehmen. Keiner sagte mehr etwas. Dann nahm Malcom Rose einfach in die Arme. Die Zeit war noch nicht da. Malcom hatte ein paar Dinge zu klären. Er war neben der Taxifahrerei dabei, seine Fotoaufnahmen zu vermarkten. Während seiner Jahre in New York hatte er immer die Kamera dabei und lichtete Fahrgäste, Einheimische und Touristen ab. Da seine Sammlung mittlerweile schon recht umfangreich war, wollte er nun sein Hobby zum Beruf machen, endlich etwas Eigenes haben. Rose selbst sollte erst noch zu sich finden, bevor sie mit einem Mann zusammenziehen wollte. „Ich möchte gerne deine nackten Füße hören, wenn sie nachts über das Linoleum tappen. Und wie du etwas zu schnell deine Zähne putzt. Auch habe ich das Südzimmer noch immer frei, es wartet auf dich, bestimmt. Aber hörst du nicht auf deine innere Stimme? Du meinst, mich zu wollen? Du willst nur dich. Tu es. Tu die Dinge für dich. Sei unabhängig, auch von mir.“ Malcom tat Rose damit weh. Sie wollte das nicht hören, was sie alles tun sollte und was nicht. Malcom brachte die Worte nur sehr leise und stoßweise heraus. Immer wieder fuhr er sich mit den Händen durch seine roten Haare. Im Hintergrund spielte die Musik von Sting.
Es war jetzt stockdunkle Nacht. Die dunstige Luft war sehr schwer und etwas modrig. Sie gingen hinein. Innen war ein heilloses Durcheinander. Fotos lagen verstreut auf dem Boden. Rose lachten schwarz-weiße Gesichter an. Es kam ihr vor, als würden sie sie auslachen. Sie grinsten voller Freude in Malcoms Kamera, verschmitzt, neugierig, frei, glücklich. Rose wühlte sich durch die Fotos, sie suchte nach traurigen und ernsten Gesichtern. Auf der grünen Samtcouch aus den 80er Jahren saß Malcom, die Beine in Schlabberhosen, der Oberkörper frei. „Hey, was willst du? Lass das! Du hast nichts verloren. Ich stehe zu dir.“
Rose kniete neben den Fotos, sah sich in der Bude um. Es war alles sehr kahl. Die Wände waren zitronengelb gekalkt, an manchen Stellen blätterte der Putz ab. Dazwischen standen hohe Bücherregale. Nur das große Fenster, das den Blick in den Garten freigab, wirkte wie eine Oase. Rose stand auf, ging nach nebenan in die Küche, von der aus man ebenfalls auf die Terrasse treten konnte. Sie holte Tomatensaft, verschüttete einen Teil, fluchte, ging ins Südzimmer, dessen Tür sie heftig zuschlug. Sie sah aus dem Fenster hinaus auf die Straße, war wütend über sich selbst, weil sie Dinge sagte, bei denen sie sich nicht mal sicher war, ob sie sie wollte. In dieser Bude wollte sie gar nicht sein. Es war hier düster und dunkel. Malcom hatte sich verändert. Nur der Garten war wie er, farbenfroh und phantasievoll. Aber in seinen Wänden würde sie sich nicht frei und unabhängig fühlen. Wieso hatte sie das nicht gleich erkannt? Die roten Flecken auf ihrem weißen T-Shirt ließen sie lächeln. „Okay, ich gehe zurück in mein Hotel; in meine kleine, eigene Welt. Erst mal richte ich mich dort ein.“ Sie gab Malcom noch ihre Adresse und beeilte sich dann. Malcom gab ihr einen Schlüssel zum Apartment. „Komme immer her, wenn dir danach ist, und lass uns weiter miteinander reden.“ Rose ging die steile Treppe nach unten. Es war ein neues Gefühl in ihr - ein Positiv-feel-Free-Feeling.
Als sie auf ihr Hotelzimmer ging, war es irgendwie in ein helleres Rot getaucht. Es waren auch neue Muster zu erkennen, Muster an den Wänden, auf den Vorhängen, auf den vielen Kissen. Sie lag auf ihrem Bett und fing an zu träumen, von ihrer neuen Welt, von ihrem schönen Leben. Sie drehte den Schlüssel von Malcoms Apartment in ihren Händen. Sie wollte es mit ihrer eigenen Unabhängigkeit probieren. Wenn es nicht lief, konnte sie ja jederzeit zu Malcom gehen. Was war für Rose Unabhängigkeit? Unabhängig davon, wie sie sich entschied, wie sie sich festlegte, unabhängig von Meinungen anderer Menschen. Sich so frei zu machen, dass sie jederzeit den Weg wieder ändern konnte, sich nicht festlegen musste. Rose musste gar nichts definitiv und endgültig betrachten. Einfach den Dingen gelassen entgegen zu sehen, das war ihre Aufgabe.
Kapitel 12: Der Weg zu innerer Gelassenheit und Stärke
Die 29-jährige Rose hatte das Leben im Hotel satt. Nach fast drei Jahren wollte sie endlich ganz für sich selbst sorgen, sich Gutes tun, sich entspannen, sich zu nichts verpflichtet fühlen, sich nicht zu sorgen, kein schlechtes Gewissen zu haben, ihre Forderungen und Wünsche klar ausdrücken, sich verwöhnen lassen. Die neue Bleibe wollte Rose ohne inneren Zeitdruck finden. War auch kein Problem, aber erst einmal musste Rose herausfinden, was sie wollte. Das war schon schwieriger. Rose hatte schon lange nicht mehr ihr Herz sprechen lassen. Ja, sie liebte Romantik, sie liebte südländisches Flair, sie liebte Blumen, Düfte, warme Farbtöne, anheimelnde Dinge. Sie liebte die Nähe zum Leben, aber hektisch durfte es nicht sein. Vielleicht eine ruhige Seitenstraße in einem belebten Viertel. Rose saß auf dem Bett und dachte intensiv nach. Am liebsten wollte sie jetzt alles auf einmal ändern. Wollte sie überhaupt hier in New York bleiben? Vielleicht sollte sie doch endlich erst einen neuen Job suchen? Ach großer Bullshit, das war es ja, nein, auch wenn sie in der neuen Wohnung nicht lange sein sollte, sie konnte wieder umziehen, nichts ist für die Ewigkeit. Endlich wurde sie etwas gelassener.
An diesem Abend traf sie sich seit langem wieder mit Ross. Rose freute sich. Sie war gerade dabei, sich einen grünen Tee zuzubereiten, da klopfte es. Ross nahm sie in die Arme und drückte sie sehr fest. „Du hast mir gefehlt.“ Rose war ein wenig berauscht. Manchmal sagte er Dinge, die Rose verblüfften. „Lass uns gehen, ich möchte mich heute Abend amüsieren.“ In der Subway war es sehr stickig. Außerdem mussten sie lange auf den nächsten Zug warten, der dann auch noch total überfüllt war; Haut an Haut drückten sich die Passagiere zusammen. Rose mochte das gar nicht. Es war alles in grau und blau gehüllt. Innerlich wurde sie gereizt, fühlte sich unwohl. Ross bemerkte das: „Hey, mach dich geschmeidig, wir steigen gleich wieder aus. Was uns dann erwartet, ist eine sehr gemütliche Bar.“ Leichter gesagt, als getan. Andere Menschen machten sie unruhig; sie vermisste dann Rückzugsmöglichkeiten, Ruhezonen. Aber Ross war doch bei ihr, ihm konnte sie doch vertrauen. Sie hatte sich aber noch nie bei ihm fallen gelassen, ihr Herz geöffnet, sich losgelassen, sich bei ihm so gefühlt, wie wenn sie alleine mit sich gewesen wäre. Das gab ihr zu denken. Sie wollte das probieren, heute Abend. Mal sehen. Sie stiegen aus, fuhren die Rolltreppen hoch, schnupperten die raue Nachtluft. Die Bar leuchtete mit roten, geschwungenen Lettern schon von der Straßenecke her: Kolibri Inn. Eine große Drehtür führte ins Innere. In ein Inneres aus Samt und Rot, aus gedämpften Licht und beschwingter, Soul-Musik. Der hell erleuchtete Tresen stand zentral und bildete ein Rechteck. Um die Bar herum waren runde Tische mit Korbstühlen verteilt. Die Kerzen auf den Tischen leuchteten auf den glänzenden Boden. Ross und Rosa ließen sich in der Nähe der Bar nieder. Die Aufregung in ihr begann sich etwas zu legen. Sie blinzelte aus ihren blauen Augen und nahm jedes Detail um sie herum wahr. Da waren noch nicht viele Gäste im Kolibri Inn; ein Mann, der in seine Zeitung vertieft war, eine Frau, die unruhig auf ihre Uhr starrte, an einem weiteren Tisch eine heitere Gruppe und an der Bar saß noch niemand. Es war noch früh am Abend, und so richtig brechend voll wurde der Laden immer erst gegen Mitternacht. Ross hielt einen Plausch mit dem Barmann, bei dem er die Bestellung aufgab. Die beiden kannten sich aus ihren Jugendtagen. Sie lachten.
Rosa lauschte der Musik - ein Saxophon gab alles in gedämpftem Ton. Rosa liebte das Dahinplätschern von Rhythmen. Das rührte sie sehr tief. Sie spielte mit ihren Haaren, versuchte, sich abzulenken, nicht an die Nacht zu denken. Nicht nach gelernten Einstellungen zu reden und zu handeln, sondern nach ihren inneren Wünschen zu gehen. Was für eine Leistung! Wenn sie in sich hinein fühlte, sie ihren Willen, ihre Gedanken versuchte auszuschalten, stand sie wie vor einer Wand. Wie wenn irgendetwas in ihr es nicht zulassen wollte, weiter zu forschen, sich zu entdecken, ihrer Seele Raum zu geben. Was war das nur? War es Furcht vor der Entdeckung, vor dem eigenen Ich? Was war mit ihrem Ich, dass sie es nicht finden konnte? War es so gewichtig, verrucht, gar böse? Wer war ihre Seele? Diese Fragen kamen so plötzlich. Dabei hatte sie den Eindruck, dass diese Fragen sehr wichtig für sie waren. Dass sie keine Antworten darauf hatte, dass sie so zögerlich war, sich und anderen nichts eingestand, das legte Rosa als Schwäche aus. Rosas Seele sollte sehr stark sein; zu dieser vermeintlichen Schwäche zu stehen, war jedoch erst einmal unumgänglich - auf dem Weg zu sich selbst, zu ihrer eigenen Welt, ihrer eigenen Unabhängigkeit, ihrer inneren Stärke. Sie lehnte sich im Sessel zurück und blickte an die Decke. Es war eine sehr hohe dunkle Holzdecke an der kleine Lampen an unterschiedlich langen Seilen herunterhingen, die auf dem Boden Lichtflecken hinterließen. Genauso flackerten auch in ihrem Inneren Lichter auf und erhellten sie.
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