Nicht zum ersten Mal verfluchte Brugger die Entscheidung, sich in der „kreativen Woche“ ausgerechnet dieses Projekt von Magnussen vorgenommen zu haben. Vielleicht war er ein wenig eingebildet, aber er vermutete, dass jeder seiner Assistenten das schnell ad acta gelegt hätte und damit wäre es wohl für immer verschwunden gewesen.
Aber anscheinend war es „vorherbestimmt“, dass er es wählen würde. Er war zwar nicht namentlich erwähnt worden vom Hologramm, aber wie hätte es sonst Erik nach Norwegen führen sollen, wenn nicht durch die Verbindung, die zwischen ihnen und Emma bestand?
Wie er es drehte oder wendete, es war einfach krank. Genau das war der Grund, warum er solche hypothetischen Zeitspielchen nie mitmachen wollte. Entweder war es gar nicht seine eigene Entscheidung, sondern Bestimmung, oder diese Entscheidungen waren so vorhersehbar, dass man sie fast fünfhundert Jahre entfernt noch erkennen konnte.
Und Entscheidungen hatte er genug zu treffen! Als er das Ergebnis vor sich hatte und besorgt war, dass es in den falschen Händen landen könnte, war er durchaus versucht, alles zu löschen und es notfalls mit ins Grab zu nehmen. Er hatte sich dafür entschieden, es mit Emma zu besprechen und erst dadurch kam das Neuro letztendlich zu seinem vorbestimmten Besitzer. Erik war so enthusiastisch, dass es gar nicht zur Diskussion stand, vielleicht doch noch alles irgendwo zu vergraben oder im Meer zu versenken.
Die Sache mit dem Kind war natürlich auch für Brugger nicht hinzunehmen. Und seit gestern wusste er von Erik auch noch, dass die Erde im späten 25. Jahrhundert unbewohnbar werden würde und der Sinn dieser Zeitreisen wohl darin bestand, diese Zukunft rückwirkend zu verhindern. Da war sie wieder diese kranke Zeitreiselogik, die sich in wirrer Grammatik materialisierte.
Dennoch waren sie sich bei ihrem ersten Brainstorming vor drei Tagen einig, dass sie nicht versuchen wollen würden, die Welt zu verbessern oder die Menschheit zu retten. Die Gefahr, dabei mehr kaputt zu machen als zu reparieren, war einfach zu groß. Als sie aber mit dem Schicksal eines dreijährigen Jungen konfrontiert wurden, da hatte das Problem etwas Persönliches bekommen. Ein Gesicht sozusagen!
Und so funktioniert die Psyche des Menschen nun mal. Eine anonyme Masse an Menschen kann man wohl eher opfern oder abschreiben, als eine einzelne Person, deren Schicksal man kennt. Marit hatten sie persönlich getroffen, Professor Magnussens Forschung hatte sie ausgiebig beschäftigt, und sein Hologramm war so realistisch, als hätte er sich persönlich an sie gewandt.
Und dann noch diese Geschichte von dem abtrünnigen Zeitreisenden oder wie man den Täter auch immer bezeichnen wollte, der ein Kind aus der Zeitlinie entfernt, weil es angeblich sechzehn Jahre später einen Terrorakt verüben würde?
Sicher bliebe Mord immer noch Mord, aber ob man nun einen Dreijährigen oder einen Neunzehnjährigen tötete, war schon ein gewaltiger Unterschied, zumal dieser Spät-Teenager dann kurz vor seinem Terrorakt gestanden hätte. Oder stehen würde? Mal kurz überlegen!
Brugger rechnete und kam zu dem Ergebnis, dass die vereitelte Zerstörung von Oslo wohl in etwa zwei Jahren „hätte stattgefunden werden haben müssen“. Oder so ähnlich!
2015 also, falls er richtig gerechnet hatte. Falls sie den Jungen retten würden, wäre es dann um Oslo geschehen? Oder müssten sie ihn gar erst retten und dann vom Attentat abhalten? Erst einem Kind das Leben retten und es dann sechzehn Jahre später selber töten? Oh Gott! Viel zu viele Fragen, auf die es einstweilen keine Antworten geben konnte.
Eines war für Brugger aber klar und das in jeder Zeitform: Nachdem Erik der Verlockung der Zukunft und seinem neuen Spielzeug wohl verfallen war, gab es nur noch eine mögliche Stimme der Vernunft, und die war seine eigene!
Vor drei Tagen hätte er allerdings noch gesagt, dass er dem jüngeren Partner intellektuell jederzeit gewachsen war. Nun hatte Erik allerdings dieses Gerät, das ihn zwar nicht unbedingt intelligenter machte, ihm dafür aber Sachverhalte verraten konnte, über die sich die heutige Wissenschaft sicher noch nicht mal Gedanken gemacht hatte.
Es wäre wohl aber nun klüger, bei strittigen Punkten nicht unbedingt auf Konfrontationskurs zu gehen. Angst hatte er keine, aber Brugger hatte das Gefühl, dass Erik sich von seinem Neuro beeinflussen lassen könnte. Das würde zwar eine gewisse Art von eigenem Willen bei dem Gerät voraussetzen, aber warum sollte ihn so etwas noch verwundern?
Diesem Neuro vertraute Brugger auf keinen Fall. Ebenso wenig vertraute er diesem Novalik Staam, von dem das Neuro geschickt worden war.
„Einmal ganz kräftig lächeln, bitte! Schön extrem grinsen!“ Die Anweisungen von Masken-Mike rissen Brugger aus seinen Gedanken. Solche Unterbrechungen mochte er gar nicht. Insofern war das extreme Grinsen dann auch eher ein Zähne-Fletschen, aber Mike war dennoch zufriedengestellt.
Im Bereich seiner „Grübchen“ bekam er vier leichte Stiche gesetzt, die zumindest dazu beitrugen, das bedrohliche Fletschen der Zähne aufrecht zu erhalten. Mike erklärte nebenher, dass dies die Kontaktpunkte seien, an denen er später mit der Elektro-Stimulation eingreifen würde. Ach! Was freute sich Brugger schon darauf, dass man ihm mit Elektroschocks das Gesicht verändern würde!
Sein Gesicht fühlte sich mittlerweile schon etwas gestrafft an. Aus den Augenwinkeln konnte er aber deutlich tiefere Falten an Stirn und Schläfen erkennen. Er war zwar nur knapp drei Jahre jünger als Magnussen, aber das Leben hatte den Norweger wohl stärker gezeichnet als ihn. Und sie wussten seit zwei Tagen auch, was ihn so mitgenommen hatte.
Brugger durfte dann sein Gesicht aktiv entspannen. Er sollte die Kiefer in alle Richtungen bewegen und dann den Kopf einfach mal schütteln, so dass die Backen schlackerten. Dem kam er gerne nach. Anschließend wurde ihm mitgeteilt, dass nun der Feinschliff käme. Er sollte sich, sobald die Maske saß, möglichst normal benehmen und nicht daran denken, dass sein Gesicht teilweise mit einer Maske bedeckt war.
Denken Sie an ein Tier, aber nicht an einen rosaroten Elefanten! Das funktionierte ja immer!
Er sollte sich nicht ins Gesicht fassen. Die Maske würde einiges aushalten, aber sie musste nach dem Job auch wieder abgezogen werden können. Brugger würde sich im Auto auf seine Hände setzen und Erik fahren lassen. Er sollte möglichst auch keine Grimassen schneiden.
„Ich schneide keine Grimassen!“, erwiderte er kurz angebunden. Er sah Eriks Grinsen aus den Augenwinkeln, sparte sich aber einen Kommentar. Dann sollte er wieder stillhalten, was er auch gerne machte, weil er sich nun endlich wieder seinen Gedankengängen verschreiben konnte.
Für Erik schienen zwei Sachverhalte unverrückbar, obwohl es dafür keinerlei Beweise gab. Erstens: Novalik Staam war der Mann, der alles in Ordnung bringen könnte und auch würde. Zweitens: Hermann Stolz war einer der Zeitreisenden, die die Welt retten wollten.
Dass eine Zeitreise eine automatische Rückreisefunktion besaß, sobald die maximale Aufenthaltszeit erreicht war, hatte diesen zweiten Punkt arg ins Wanken gebracht. Zumal nach näherem Befragen des Neuro die längste mögliche maximale Aufenthaltszeit mit etwa sechsunddreißig Stunden angegeben wurde.
Dies wäre etwas knapp bemessen, um sich kennen und lieben zu lernen, zu heiraten und einen Sohn zu zeugen. Allerdings war es möglich, dass sein Vater mehr als nur eine Zeitreise durchgeführt hatte und auch die Heiratsurkunde so falsch war, wie das Zeugnis als Sanitäter.
Das wiederum würde das Verschwinden seines Vaters und die merkwürdige Schweigsamkeit seiner Mutter zu dem Thema erklären. Aber schwach blieb die Argumentationskette trotzdem.
Brugger behielt weiter für sich, dass er jemanden auf Nachforschungen zu Dr. Hermann Stolz angesetzt hatte. Eriks Datensuche hatte nichts zu diesem Namen ergeben. In den Fünfzigern wurde eben noch alles sauber auf Papier in Aktenordnern geführt. Da konnte man nicht einfach mal übers Internet Namen abrufen, es sei denn, jemand hätte sich die Arbeit gemacht und alle Daten der Uniklinik Dresden nachträglich auf irgendwelchen Servern gespeichert.
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