Brugger sah, wie Erik die Hand auf den Getränkehalter legte, unter dem das Neuro versteckt war. War das Nachdenklichkeit oder eine gewisse Sehnsucht, das Gerät um Rat zu bitten? Brugger blieb still und wartete, bis Erik mit seinen Erklärungen fortfuhr.
„Die Verantwortung für andere ist neu für mich. Ich bin nicht dein Babysitter, aber ich habe über dich verfügt oder dich überredet, dass du die Maske kriegst und in die Bank gehst. Damit bin ich mitverantwortlich! Wenn ich mit meinen Leuten sonst einen Job erledige, dann wird jeder einzelne Teil davon von einem absoluten Experten ausgeführt, und niemand muss für einen anderen wirklich Verantwortung übernehmen. Man verlässt sich darauf, dass jeder einzelne seinen Part erfüllt und dadurch das ganze Unternehmen gelingen wird.
Dann ist da noch dieser Junge, der eigentlich schon lange tot ist. Und es liegt an mir, ihn zurück in die Realität zu holen. Dieser Magnussen hat sich anscheinend freiwillig in diese Lawine geworfen. Das hast du aus seinem Statement doch auch herausgehört! Er hat akzeptiert, dass er sich opfern muss, damit sein Sohn wieder leben kann und jetzt muss ICH durch die Zeit reisen, damit dieser Staam sein Versprechen einlöst. Das ist nicht gerade meine Comfort-Zone !“
„Du hast das Neuro jetzt fast dreißig Stunden nicht mehr benutzt, oder?“ Erik war etwas verdutzt wegen dieser Frage, nickte aber zustimmend. „Weißt du, ich will dir das Gerät nicht madig machen, aber man merkt es dir an, dass du wieder etwas normaler bist. Gestern früh warst du wie auf Drogen, so überzeugt von dir und deinem neuen Super-Tool, dass ich mir fast ein wenig Sorgen gemacht habe, ob du nicht abdrehst. Ich habe das Gefühl, dass es nicht nur als Wissensspeicher dient, sondern dich auch mental beeinflusst.“
Jetzt hatte Brugger es doch angesprochen! Als Erik sich nicht mehr ganz so selbstsicher präsentierte, wie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden, da dachte der Professor, dies wäre der bestmögliche Zeitpunkt für so eine Ansprache. Außerdem wollte er lieber jetzt wissen, wo man stand und nicht erst, nachdem sie den nächsten Schub an Wunder-Spielzeug aus der Bank geholt hatten.
„Weißt du Brugger, das Ding ist einfach wie für mich gemacht. Ich kann förmlich spüren, dass es genau diesen Bereich in meinem Gehirn anspricht, der eben anders ist. Als Kind habe ich früher meine Kopfschmerzen immer mit noch mehr Lesen bekämpft. Aber je länger ich Zeug in mich reinstopfte, desto schlimmer wurde es danach. Ich konnte das während des Lesens schon spüren, dass es eigentlich nur schlimmer werden würde, traute mich aber nicht aufzuhören, bis ich völlig übermüdet war.
Ich wollte mit den Informationen, die ich aufsaugte immer noch etwas mehr machen, aber ich wusste nicht, wie ich das machen sollte. Diese Informationen, die ich aus dem Neuro bekomme, die sind genau für diesen Extra-Hirnlappen gemacht. Ob das jetzt Schwingungen sind oder ob das eine bessere Energieabstimmung ist, das weiß ich nicht, aber das ist definitiv Wissen, das mir später keine Schmerzen verursachen wird.
Ich weiß, dass ich aufpassen muss, aber wenn du so lange mit Schmerzen zu kämpfen hast wie ich und du dann die Lösung aller Probleme serviert bekommst, ist es schon schwer, sich zurückzuhalten.“
Brugger schämte sich nun für seine Panikattacke. Natürlich ist es schwierig, sich in einen anderen hineinzudenken und Eriks Probleme waren zugegebenermaßen auch ziemlich einmalig, aber so richtig hatte er sich noch keine Gedanken darüber gemacht, wie man sich fühlen musste, mit einer derartigen Abnormität, noch dazu einer im Gehirn.
Wenn man dann noch betrachtete, dass ihn das bereits als Kind gequält hatte und er wohl auch mit niemand richtig darüber reden konnte, dann durfte man Erik für seinen Werdegang kaum noch verurteilen. Eher musste man sich darüber freuen, dass aus ihm kein Psychopath geworden war.
Er legte Erik die Hand fast väterlich auf die Schulter. „Ich glaube, wenn du diese Reise wirklich machst, dann wird sich dein Extra-Hirnlappen noch als sehr nützlich erweisen. Und wenn du es zulässt, dann werde ich auch ein Auge auf dich haben und dich darauf hinweisen, wenn du wegen des Neuros wieder zu euphorisch wirst.
Aber zu der Sache mit der Verantwortung will ich dir noch was sagen. Bei den Operationen, an denen du bisher teilgenommen hast, da ging es sicher immer um Gewinn oder darum, anderen den Gewinn zu vermasseln. Wenn das hier alles gut geht und dieses Kind wieder lebt, was meinst du, was das für ein Gefühl wird?
Ich hatte früher eine Menge Angebote aus dem Ausland, so richtig groß in die Forschung einzusteigen, um dann von einem Projekt zum nächsten zu hetzen, nur um irgendwann einen Nobelpreis zu bekommen oder haufenweise Kohle zu scheffeln. Ich bin froh, dass ich mich da nie habe locken lassen.
Eine Tochter großzuziehen war sicher auch nicht gerade die Comfort-Zone für einen Experten in Theoretischer Physik, aber ich denke, meine Frau und ich haben das richtig gut hinbekommen. Und deshalb bin ich darauf viel eher stolz als auf irgendwelche Auszeichnungen, die ich mal bekommen habe, bloß weil ich über theoretisch vorhandene Teilchen oder hypothetische Energiemodelle geschwafelt habe.“
Die beiden schwiegen sich daraufhin eine ganze Weile gegenseitig an, bis Erik auf seine Uhr blickte und befand, dass es langsam an der Zeit war weiterzufahren. Brugger fühlte sich nun wieder viel besser, und als er beim Anschnallen die Mullbinde sah, die Erik in den Getränkehalter gestopft hatte, da wusste er auch, dass er keinen falschen Verband brauchen würde.
Brugger packte die Binde und steckte sie ins Handschuhfach. „Die brauchen wir nicht, aber lass den Motor nachher lieber laufen, falls ich es doch verbocke!“
Brugger stieg die Stufen zum Eingang der „Banken Letzebuerg“ hinauf. In seiner rechten Hand trug er einen Koffer, den Erik besorgt hatte, während Brugger unter der Maske hatte leiden müssen. Der Koffer hatte ein ungefähres Fassungsvermögen von zehn Litern, ähnlich wie das Bankfach. Da es sich mit ziemlicher Sicherheit um Geräte auf organischer Basis handeln musste, würde es wohl kein Gewichtsproblem geben, aber Brugger hatte trotzdem Angst, dass da noch ein schwerer Barren Blei oder Ähnliches im Fach liegen könnte.
Oder ein Container mit der Aufschrift „hochexplosiv – nicht schütteln“! Es fiel ihm schon recht einfach, hierzu irgendwelche Horror-Szenarien zu generieren. Das Schlimmste, das er entwickelt hatte, war Folgendes: Ein Wissenschaftler aus der Zukunft wollte Erik Zsolt-Stolz töten und hatte deshalb einen perfiden Plan entwickelt, der ihn in die Bank führen sollte. Beim Öffnen des Schließfachs würde eine Bombe gezündet oder ein fieses tödliches Gift freigesetzt, das ihn innerhalb von Sekunden in ein zuckendes Häufchen Elend verwandelte. Oder wie wäre eine Säure, die sich beim Öffnen der Box mit der Luft vermischte und ihn restlos zersetzte?
Wenn man in der Wissenschaft tätig war, wusste man, dass die am weitesten fortgeschrittene Technologie immer dazu diente, Leben auf immer neue und kreativere Weise zu nehmen. Es war stets Geld dafür da, neue tödliche Geräte oder Substanzen zu entwickeln. Die Medizin musste da betteln, wo man den Waffenentwicklern das Geld von hinten und vorne reinschob. Und Brugger zweifelte ernsthaft daran, dass sich das innerhalb von fünfhundert Jahren ändern würde.
Die Tür zur Bank öffnete sich automatisch, und Brugger trat ein in einen herrlich gekühlten Marmortempel. Laut Eriks Recherchen eine renommierte Bank mit langer Geschichte und sehr seriös, mit angemessenen Sicherheitsstandards und der Kunde war hier wirklich König. Brugger stand in der Schalterhalle und sondierte das Personal. Erik hatte ihm einen Tipp gegeben: Er sollte sich den Angestellten aussuchen, der ihm auf Anhieb am unsympathischsten wäre!
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