Meine Mutter hat die starken Schwankungen ihres Hormonhaushalts offenbar nur schlecht verkraftet, außerdem litt sie schon als junges Mädchen unter depressiven Verstimmungen. Hinzu kommt, dass sie im Krankenhaus schlecht versorgt und lange allein gelassen wurde. Außerdem wurden wir sofort nach der Geburt getrennt und man brachte ihr Baby auf die Säuglingsstation, wie es damals leider noch üblich war. Verhaltensforscher belegen, dass Babyblues und Wochenbettdepressionen bei vielen Naturvölkern nicht vorkommen. Sie vermuten, dass postpartale Depressionen in der modernen Industriegesellschaft durch Gerätemedizin und die vielen Interventionen rund um die Geburt ausgelöst werden. Ein ungestörtes Kennenlernen von Mutter und Kind ist oftmals nicht möglich, der Geburtsvorgang vielfach traumatisierend für Mutter und Kind. Dazu fällt mir ein, dass meine Mutter fast die ganze Nacht allein und frierend auf dem Krankenhausflur verbrachte. Außerdem wurden die Wehen künstlich eingeleitet. Dabei werden synthetische Hormone eingesetzt und die Wehen sind dann besonders schmerzhaft. Ob das überhaupt notwendig und der natürliche Zeitpunkt für meine Geburt tatsächlich überschritten war, bleibt ungewiss. Sicher ist nur, dass sie den Arzt, der sie ins Krankenhaus einwies, kaum kannte und vorher nur einmal gesehen hatte. Eine tragische Verkettung unglücklicher Umstände.
Wie stark die Bindung zwischen meiner Mama und mir war, als sie sich das Leben nahm, kann man nicht ermessen. Vermutlich habe ich nicht nur vor Hunger geschrien, als mein Vater an jenem Novembernachmittag heimkam und seine Frau tot vorfand. Leider verlor ich zweieinhalb Jahre später nochmals eine Mutter, auch wenn es sich tatsächlich um meine Tante handelte. Aber diese Frau, die ich Mama nannte, hatte mich zweieinhalb Jahre liebevoll versorgt, mich gefüttert und gewickelt, mir Sprechen und Laufen beigebracht. Sie war meine Mutter in den ersten drei Lebensjahren, der wichtigsten Phase der Persönlichkeitsentwicklung. Kein Wunder also, dass man mir später in der Psychotherapie eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostizierte. Ich habe kein Urvertrauen und große Schwierigkeiten, beständige und liebevolle Beziehungen aufzubauen. Obwohl ich große Sehnsucht nach Liebe und Zusammengehörigkeit habe, will ein Teil von mir keine Bindung eingehen. Dieser Teil erinnert den Schmerz genau, der mit Verlust und Trennung einhergeht. Das Gefühl, geliebt zu werden, ist in meinem Unterbewusstsein unauflösbar mit der qualvollen Erfahrung von Verlust verbunden.
Heute weiß ich, warum meine Liebesbeziehungen in der Vergangenheit immer nach demselben Schema verliefen. Kinder wollen verstehen, was mit ihnen geschieht, besonders bei traumatischen Erfahrungen. Sie fragen immer wieder nach dem Warum. Wenn sie keine glaubhafte Erklärung bekommen, erschaffen sie eine, reimen sich die Dinge irgendwie zurecht. Warum ließ meine Mutter mich zurück? Wie konnte meine Mama-Tante zulassen, dass ich von ihr getrennt und einer fremden Frau gegeben wurde? Weil ich schlecht bin. Weil ich es nicht verdient habe, geliebt zu werden – so lautet die selbst fabrizierte Begründung für das Unerklärliche. Mittlerweile kann ich meine innere Programmierung – denn darum handelt es sich bei solch wirkmächtigen Glaubenssätzen, die im Unterbewusstsein wurzeln – in drei Sätzen zusammenfassen. Die Regeln, nach denen mein Lebensdrama sich immergleich abspielt, passen in drei kurze Paragrafen.
§ 1 Niemand liebt mich.
§ 2 Wenn mich doch mal jemand lieben sollte, werde ich verlassen.
§ 3 Falls ich geliebt und nicht verlassen werde, muss ich selbst die Trennung herbeiführen.
Ein wichtiger Job des Saboteurs ist, immer wieder für die falsche Partnerwahl zu sorgen. Echtes Glück will geteilt werden, ist allein unmöglich. Wenn ich mich stets zu Frauen hingezogen fühle, auf deren Liebe kein Verlass ist, hat der Saboteur seine Aufgabe fast erfüllt. Und bei denen, die verlässlich lieben, muss er mich nach Paragraf 3 eben dazu bringen, dass ich mich unausstehlich benehme. Irgendwann gibt auch die Frau mit dem größten Herzen auf. Dann ist die Unwiderlegbarkeit von Paragraf 1 erneut bewiesen.
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