Ingrid Mayer
Veanis
Das Reich der Bücherverschlinger
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Inhaltsverzeichnis
Titel Ingrid Mayer Veanis Das Reich der Bücherverschlinger Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
Die Entdeckung
Ein ungewöhnlicher Reisebegleiter
Buchborden
Wo ist Frau Zeterbock?
Rückkehr
Alles ist anders
Bücher soll man nicht essen
Professor Zorax Knobel
Die Bibliothek der unantastbaren Bücher
Der Zwergenriese Herold
Nach dem Sturm
Erde und Luft
Impressum neobooks
In dieser Nacht regte sich nichts in den Gassen der Stadt Buchborden. Niemand war mehr unterwegs, und in den Fenstern der Häuser waren längst die letzten Kerzen erloschen. Nur vom Schloss herunter flackerten immer wieder gelbe, rote und blaue Lichter auf und umgaben so das riesige Gebäude mit einem bunten Schein. Es lag hoch über der Stadt auf einem steilen Hügel, sodass es schon von Weitem sichtbar war.
Auf der schmalen Treppe, die zum Schloss hinauf führte, tastete sich ein dunkler Schatten entlang. Er gehörte zu einem alten Mann, dem das Aufwärtsgehen sichtlich Mühe bereitete. Vorsichtig setzte er Schritt für Schritt. Hin und wieder blieb er stehen, um zu den Schlossmauern empor zu blicken, als wären diese ein unerreichbares Ziel für ihn.
Sibelius Donnerhall lebte seit langer Zeit auf dem Schloss. Genauer gesagt, seit zwei Jahrhunderten, denn seine Zauberkraft ließ ihn nur langsam altern. Doch seit einer geraumen Weile spürte er, dass auch seine Kräfte nun allmählich nachließen.
Es begann leicht zu regnen. Bald würden die Stufen glitschig werden, und Sibelius hatte seinen Gehstock nicht mitgenommen. Da er es nicht riskieren wollte auszurutschen, versuchte er möglichst rasch nach oben zu steigen. Mit jedem Treppenabsatz pochte das Herz des Zauberes ein wenig schneller. Sein lautes Keuchen durchdrang die Stille der Nacht.
Je näher er dem Schloss kam, desto mehr konnte er die Zauberkraft spüren, die von dem Gebäude ausging. Von den trutzigen Mauern leuchteten immer wieder bunte, rechteckig geformte Lichter auf. Dieses magische Leuchten vermittelte Sibelius ein Gefühl der Sicherheit, aber es schenkte ihm auch die Kraft, die letzten Stufen zu erklimmen.
Beinahe leichtfüßig durchschritt der Zauberer den kleinen Garten, der vor dem Schloss lag. Als er vor dem wuchtigen Tor stand, befiel ihn für einen kurzen Moment die Angst, dass es ihm nicht gelingen würde, das schwere Portal aufzustemmen, doch dann fiel ihm ein geeigneter Zauber ein. Wie von selbst öffneten sich die Torflügel, und Sibelius trat mit hoch erhobenem Haupt ein.
Als Sibelius die Halle des Schlosses betrat und seinen weiten Umhang ablegte, kam ein dünner, ausgemergelter Körper zum Vorschein. Nach Hunderten von Jahren war seine Zeit wohl bald gekommen. Er fürchtete sich nicht vor dem Tod, doch es stimmte ihn traurig, dass niemand seine Arbeit fortführen würde. Um sich von seiner Traurigkeit abzulenken, beschloss der Zauberer, noch ein wenig in der Bibliothek zu stöbern. Es war zwar schon spät, aber schlafen konnte er in letzter Zeit ohnehin nur mehr schlecht. Bevor er Stunde um Stunde wach lag und sich im Bett hin- und herwälzte, konnte er genauso gut noch etwas lesen.
„Vater?“, erklang eine krächzende Stimme aus den oberen Stockwerken.
Sibelius seufzte. Er hatte gehofft, dass seine Tochter schon schlief.
Eine junge Frau stolperte die Treppe hinab, in ein wallendes weißes Nachtgewand gehüllt, sodass sie wie ein Schlossgespenst aussah. Sie blickte böse und kniff ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
„Da bist du ja endlich, Vater! Ich habe auf dich gewartet. Wie konntest du einfach weggehen, ohne mir vorher etwas zu Essen zu beschaffen?“, keifte sie. „Ich hatte heute einen schweren Tag hinter mir. Bis Mittag ist es mir nicht gelungen aufzustehen. Beinahe den ganzen Tag musste ich im Bett verbringen. Ich konnte nicht einmal die Kraft aufbringen, auch nur das Fenster zu öffnen, um frische Luft einzulassen.“
Sibelius nahm einen Stock, der an der Wand lehnte, um sich darauf zu stützen. Ihm schien, als raubte ihm das Verhalten seiner Tochter die letzte Energie. So konnte es nicht weitergehen. Es musste sich etwas ändern. Und so fasste Silbelius einen Entschluss. Es würde nicht leicht werden, doch irgendwann musste er es ihr sagen.
„Sibelia, mein Kind. Setz’ dich doch. Ich muss dir etwas mitteilen.“
Sibelia glotzte dümmlich und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Lina saß am Ufer des kleinen Sees im Gras und war völlig vertieft in ihr Manuskript, das auf ihren Knien lag. Auf der anderen Seite des Sees brauste ein Wasserfall von einem meterhohen Felsen herab. Dort, wo er in das Gewässer eintauchte, lag ein feiner Nebel über der Seeoberfläche.
Lina hatte gerade einen Einfall, den sie aufschreiben wollte, als plötzlich dicke Wassertropfen tropften auf das Papier tropften. Ungehalten sah sie auf und sah ihren Bruder Fabian vor sich stehen. Nur mit einer Badehose bekleidet schüttelte er die Nässe aus seinen schwarzen kurzen Haaren, die ihm nun wie dicke Stacheln vom Kopf abstanden.
„Was schreibst du denn schon wieder?“, wollte er wissen. „Komm’ doch lieber mit ins Wasser. Es ist auch garnicht kalt.“
Lina legte ihren Stift weg und atmete tief durch. Dass ihr jüngerer Bruder sich nicht für ihr Hobby begeisterte, wusste sie schon lange. Aber musste Fabian immer stören, wenn ihr gerade die tollsten Ideen durch den Kopf schossen? Sie beschloss, geduldig mit ihm zu sein und erklärte: „Ich schreibe eine Geschichte über ein Land, in dem es viele Wasserfälle gibt. Hinter einem von ihnen ist ein Schatz versteckt, der...“
„Wasserfälle?“, unterbrach Fabian sie und deutete hinter sich. „So wie dieser hier? Und du glaubst, jemand käme auf die Idee, dahinter einen Schatz zu vergraben?“
Lina seufzte. Es war hoffnungslos. Niemals würde er ihre Leidenschaft für fantastische Welten verstehen. Sie beschloss, ihren Bruder zu ignorieren und starrte stur auf ihren Schreibblock, bis sich Fabian beleidigt trollte. Erst als sie ein Platschen hörte, sah Lina wieder auf. Fabian hatte sich ins Wasser gestürzt und trieb nun wie eine lebende Luftmatratze auf der Oberfläche des kleinen Bergsees. Hinter ihm rauschte ein Wasserfall über die Felsen hinab und ergoss sich in das flache Becken. Lina schloss die Augen und konzentrierte sich auf das stetige Rauschen.
Dass der Sonntagsausflug mit der Familie an diesen Ort geführt hatte, freute Lina sehr, denn nun hatte sie Gelegenheit, einen echten Wasserfall zu erleben. Die neuen Eindrücke wollte sie gleich in ihre Geschichte einfließen lassen.
Als Lina ihre Augen wieder öffnete, sah sie oben, auf dem höchsten Punkt des Berges, zwei Gestalten stehen, die zu ihr hinabwinkten. Lina winkte zurück. Ihre Eltern hatten den großen Felsen über dessen Rückwand bestiegen. Nun befanden sie sich dort, von wo aus sich das Wasser in die Tiefe stürzte. Linas Blick wanderte wieder nach unten, denn da winkte ihr ebenfalls jemand zu. Direkt vor dem Wasserfall stand Fabian und gab ihr mit einem Zeichen zu verstehen, dass er vorhatte, durch die Wasserwand zu gehen. Anscheinend wollte er tatsächlich nachsehen, ob dahinter ein Schatz versteckt war.
‚Dieser Idiot’, dachte Lina. Zum Glück sahen die Eltern nicht, wie Fabian kurz darauf hinter den Wassermassen verschwand.
* * *
Das Wasser umfing Fabian mit einer Wucht, mit der er nicht gerechnet hatte. Ein breiter, gleichmäßiger Schwall ergoss sich über ihn und presste ihn mit seiner überraschenden Schwere beinahe zu Boden. Er bekam keine Luft mehr und torkelte zurück. Doch das Wasser war überall, drückte ihm in Nase, Mund und Ohren. Es fühlte sich an, als sei er von flüssigen Mauern umschlossen. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Noch ein Schritt, weit konnte es nicht mehr sein! Mühsam kämpfte sich Fabian vorwärts.
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