„Ich will nicht zu schnell über euch alle urteilen, denn es ist bereits zu viel Blut vergossen worden. Lasst euch das Ende des feigen Verräters ein Beispiel sein! Das gleiche Schicksal wird jeden ereilen, der sich noch weiter gegen mich stellt!“
Sedat ließ die Drohung auf die Menge wirken. Die meisten der Versammelten senkten eingeschüchtert die Köpfe. Zufrieden nickte der Scheich, bevor er fortfuhr: „Doch ich bin kein Unmensch. Diejenigen von Euch, die nach Zarifa in ihre Heimat zurückkehren möchten, müssen mir hier und jetzt einen Treueeid schwören. Kniet vor mir nieder und verpflichtet euch, zukünftig die eigenen Interessen denen des Stammes unterzuordnen. Im Gegenzug schwöre ich im Angesicht Allahs, dass keinem von euch, der diese Entscheidung trifft, die vergangenen Vergehen nachgetragen werden. Ich gewähre jedem, der vor mir niederkniet, Amnestie.“
„Und was ist, wenn wir das nicht wollen?“, rief eine aufmüpfige Stimme aus der Menge.
„Jeder, der sich dafür entscheidet, nicht nach Hause zurückzukehren …“, geschickt verwendete Sedat die Worte „nach Hause“, denn er spürte, dass viele der geplagten Menschen genau dies wollten: einfach nur ins Große Tal zurückzukehren und dort in Frieden zu leben.
„…jeder, der sich also anders entscheidet, wird aus Zarifa für immer verbannt! Er soll nie wieder einen Fuß in dieses Gebirge setzen. Wenn er es wagt, zurückzukehren, so wird er meinen vollen Zorn zu spüren bekommen und einen langsamen Tod erleiden! Die Verbannung wir derart durchgeführt, dass meine Krieger euch hinunter in die Oase begleiten, um von dort aus mit dem Nötigsten versorgt für immer fortzugehen.“ Er hielt einen Moment inne, um den Menschen Zeit zu geben, ihre Optionen auch wirklich zu verstehen, bevor er mit eisiger Stimme ergänzte: „Wer auch diese zweite Möglichkeit verweigert, ist des Todes. Er wird als Verräter genauso bestraft wie Rayan.“
Alleine den Namen seines Sohnes laut auszusprechen, schien Sedats Innerstes zu zerreißen. Doch er war zu sich selbst genauso hart wie zu seinen Mitmenschen. Dies war seine Form der Bestrafung, die er sich selbst auferlegt hatte. Denn trotz seiner Trauer und seines Leids war er in erster Linie noch immer der Anführer, der für den Frieden seines Volkes verantwortlich war. Ihm war klar, dass zu viel Vergebung in diesem Moment als Schwäche ausgelegt werden würde, was den Aufstand sofort aufs Neue angefacht hätte.
„Und was passiert mit den Verwundeten?“, fragte jemand. „Viele von uns können nicht laufen, oder sind nicht in der Lage im Moment eine Entscheidung zu treffen.“
„Jeder Verletzte wird hier vor Ort so lange behandelt, bis er in der Lage ist, auf eigenen Füßen fortzugehen“, antwortete Sedat ruhig.
Dann wandte er sich um, um in sein Zelt zurückzukehren. Für heute hatte er genug gesagt. Er hätte zu gerne beobachtet, was seine Krieger zu seinen Worten zu sagen hatten. War er zu gnädig gewesen? Doch sein Stolz verbot es ihm, auf die Meinung seiner Untergebenen zu hören. Und im Gegensatz zu Rayan später, hatte er keinerlei Freunde wie Hanif, die ihrem Anführer ihre Meinung sagten, auch wenn dies unangenehmen war.
Hätte Sedat seine Krieger gefragt, wäre er vermutlich überrascht gewesen, denn die tarmanischen Kämpfer waren ausnahmslos erleichtert. Zum ersten Mal seit Jahren hatte Sedat eine Entscheidung getroffen, um seinem Volk weiteres Leid zu ersparen, und damit gehandelt, wie es eines wahren Anführers würdig war.
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt: Im Hotel – Die unbemerkte Gefahr
Im Gegensatz zu Rayan waren Cho und Hummer am nächsten Morgen überraschend fit, offenbar machte Übung hier den Meister. Die beiden verabschiedeten sich schon in aller Frühe, denn diesmal würden sie nicht mit nach Zarifa kommen. Vor dem Hotel stiegen sie in ein Taxi. Ein Helikopter würde sie nach Alessia bringen, von wo aus sie via Dubai in die Staaten zurückkehren würden. Nachdem die Bedrohung beseitigt war, war ihre Anwesenheit in Zarifa nicht länger vonnöten.
Angesichts des angeschlagenen Zustands ihres Herrn, hatte Jassim den Zeitpunkt für ihre Abholung auf den Nachmittag gelegt. Dankbar war Rayan noch einmal eingeschlafen. Erst nach einer Dusche fühlte er sich etwas besser, jedoch verweigerte er jegliche Nahrungsaufnahme, was Hanif mit einem Grinsen quittierte.
Es war etwa elf Uhr, als Rayan fertig angezogen ins Zimmer zurückkehrte. Wegen seiner Eskapaden vom Vorabend hatte er beschlossen, dass Yasin Tanner, sein amerikanisches Alter Ego, für den Moment ausgedient hatte. Rayan hatte eine weite schwarze Hose angezogen und darüber ein schlichtes arabisches Gewand angelegt. Mit mehr Mühe als sonst hatte er seine dunklen Kontaktlinsen eingesetzt. Jassim half ihm, einen weißen Turban um seinen Kopf zu legen, und schon war der Amerikaner vom Vorabend komplett verschwunden. Niemand würde mehr vermuten, dass es sich um ein und dieselbe Person handelte.
Da sie noch mehr als genug Zeit hatten, um zum Flughafen zu gelangen, beschloss Rayan, den Markt aufzusuchen. Er wollte sehen, wie sehr sich die Innenstadt von Rabea Akbar im Vergleich zu seinem früheren Aufenthalt hier verändert hatte. Vielleicht würden sie sogar Zeit finden, Claras Grab zu besuchen. Die Tochter von Julie und Jack Tanner war vor über 25 Jahren nach einem Anschlag hier vor Ort in Rayans Armen gestorben und auf dem lokalen Friedhof beerdigt worden. Da es damals nicht absehbar gewesen war, wann Jack Tanner Rabea Akbar würde verlassen können, hatte man die Idee, ihren Leichnam in die Staaten zu überführen, verworfen. Mindestens alle zwei Jahre reiste Julie hierher um den Friedhof aufzusuchen. Rayans Adoptivmutter wäre sicher enttäuscht, wenn sie erführe, dass er hier gewesen war, ohne Claras Grab zu besuchen.
Also zahlte Jassim das Hotel, wobei er die Rechnung für beide Zimmer und den gesamten Zeitraum beglich; es war das mindeste was sie für Hummer und Cho tun konnten, die wie üblich keinerlei Geld für ihre Dienste annahmen. Immerhin hatte Rayan die Kosten für das Saufgelage vom Vortag übernommen, daran erinnerte sich der Scheich dunkel.
Kaum traten sie aus dem Hotel bereute Rayan jedoch seine Idee, denn die Hitze, die ihm sonst nicht viel ausmachte, traf ihn wie ein Hammer und die grelle Sonne verursachte ihm Schmerzen in seinem Schädel, dass er glaubte, dieser würde ihm zerspringen. Einen Moment lang drehte sich alles um ihn. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben“, schimpfte er im Stillen. „Warum hast du dich bloß so hinreißen lassen?“.
Kurz überlegte er, ob sie ins Hotel zurückkehren sollten, doch dann beschloss er, dass er nichts anderes verdient hatte. Nachdem das Zimmer bereits bezahlt war, wäre es nur noch peinlicher, jetzt umzukehren. Nein, er musste da jetzt durch.
Seine Laune war auf dem Tiefpunkt. Aufgrund der dröhnenden Kopfschmerzen konnte er kaum denken, Jassim sah ihn an, als wolle er ihn in Watte packen – was ihm mehr als alles andere verriet, dass er sich nicht nur schlecht fühlte, sondern auch genau so aussah. Die Krönung war Hanif, der sich beständig noch über seinen Zustand lustig zu machen schien. Dass sein Bruder ihn permanent noch auf seinen Fehler gestern hinweisen musste, ärgerte ihn über die Maßen, weil er wusste, dass Hanif recht hatte! Er hatte sich absolut unangemessen verhalten. Dafür schämte er sich nun. Was mochte Jassim denken? Doch im Innern wusste er, dass sein Leibwächter noch nicht einmal jetzt von ihm schlecht dachte. „Ich habe so viel Treue gar nicht verdient!“, dachte er ergriffen. Die Intensität des Gefühls löste erneute Wellen des Schmerzes in seinem Kopf aus und wieder drehte sich alles um den Scheich. Sie waren seit einer Viertelstunde unterwegs und hatten mittlerweile etwa die Hälfte der Fußstrecke vom Hotel zum Markt zurückgelegt. Besorgt eilte Jassim an die Seite seines Herrn, um ihn zu stützen. Hanif beobachtete sie kritisch. Denn das Scherzen war ihm inzwischen vergangen. Auch er machte sich nun Sorgen um den Gesundheitszustand seines Freundes. Er kannte sich nicht mit verkaterten Menschen aus und fragte sich, ob derart starke Nachwirkungen normal wären? Oder sollten sie doch besser einen Arzt aufsuchen?
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