Faris Hassan legte zufrieden den Hörer auf. Als er dem Scheich bei ihrem Zusammentreffen im Haus der verstorbenen Leila Abdullah versprochen hatte, dessen Anwalt über den aktuellen Stand der Ermittlungen informiert zu halten, hatte er sich eines mulmigen Gefühls nicht erwehren können. „Ausgerechnet ein Anwalt“, war es ihm durch den Kopf gegangen. Würde dieser ihm nun jedes Wort im Mund umdrehen? Taib Riad hatte sich jedoch als überraschend effizienter – man mochte fast sagen angenehmer – Gesprächspartner herausgestellt. Er hörte aufmerksam zu, stellte lediglich einige gezielte Fragen und bedankte sich im Anschluss höflich für die Informationen. Faris war sich zudem sicher, dass Riad intelligent genug war, seine Zusammenfassungen im korrekten Kontext an seinen Auftraggeber weiterzugeben. Somit kam er – Faris – seiner Informationspflicht nach, die sein Vorgesetzter ihm auferlegt hatte. „Faris, ich will, dass Sie seine Exzellenz Scheich Rayan Suekran vollständig mit in die Ermittlungen einbeziehen. Er wünscht, zu einhundert Prozent über alles informiert zu sein“, hatte sein Chef ihm mit ernstem Gesicht mitgeteilt. „Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter!“, hatte er gemahnt. „Der Scheich ist kein Mann, den man zum Feind haben will. Diese Leila war seine Schutzbefohlene, und nun ist sie tot. Ich möchte nicht in der Haut der Täter stecken…“
Faris hatte sich zu diesem Zeitpunkt noch gewundert, warum sein Vorgesetzter, den sonst nichts aus der Ruhe bringen konnte, beim letzten Satz ein Gesicht gemacht hatte, als liefe es ihm alleine bei der Vorstellung, was dieser Rayan mit den Tätern tun würde, kalt den Rücken herunter. Natürlich hatte der Kommissar ebenfalls die diversen Gerüchte gehört, die man sich über den Anführer der Tarmanen erzählte, doch hatte er sie für übertriebene Ammenmärchen gehalten.
Seitdem er jedoch die Ehre gehabt hatte, seine Exzellenz persönlich kennenzulernen, war er geneigt, zumindest dem größten Teil der Geschichten Glauben zu schenken. „Wenn ich Leila ermordet hätte, würde ich Ihnen das an dieser Stelle sagen, und Sie könnten nichts dagegen tun“, hatte der Scheich damals zu ihm gesagt. Zum ersten Mal hatte Faris verstanden, dass bei diesem Fall nicht die üblichen Maßstäbe gelten würden. Er sah den kommenden Tagen mit Bedenken entgegen und fürchtete, dass er vor jeder Aktion erst eine Art Erlaubnis würde einholen müssen, was die Effektivität seiner Ermittlungen erheblich eingeschränkt hätte.
Doch der Kommissar musste nun zugeben, dass er den Anführer der Tarmanen erneut unterschätzt hatte. Faris hatte die Visitenkarte des Anwalts widerstrebend eingesteckt, sich dann aber entschieden, dass es das beste war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Immerhin blieb ihm somit der direkte Kontakt zum Scheich erspart; er hatte schon aufwändige persönliche Treffen befürchtet. Getreu seinem guten Vorsatz griff der Kommissar bereits am nächsten Morgen zum ersten Mal zum Telefonhörer, um Taib Riad anzurufen. Der Anwalt war gemäß der Aussage seiner Sekretärin in einer Besprechung, sie hatte ihn jedoch ohne weiteren Zeitverlust durchgestellt. Faris hatte daraufhin mit Vorwürfen gerechnet, weil er Riad ohne Neuigkeiten, quasi „einfach so“ angerufen hatte. Es war lediglich sein Bestreben, erst einmal den Kontakt herzustellen, um die Erwartungen des Anwalts auszuloten. Entsprechend vermutete er, dass dieser seinen Anruf als Störung empfinden würde.
Doch der Kommissar wurde überrascht: „Ich freue mich, dass Sie sich so zeitnah bei mir melden“, hatte Taib Riad gesagt. „Leila war eine unglaubliche Frau! Ich hatte leider nur einige wenige Male die Ehre, sie persönlich zu treffen, doch war ich jedes Mal erneut bezaubert. Dass ausgerechnet sie ein Opfer Sedats geworden ist, ist eine Tragödie. Entsprechend habe ich meine Mitarbeiter instruiert, dass dieser Fall absolute Priorität hat.“
Faris war es aufgrund seiner langjährigen Berufserfahrung gewohnt, herauszuhören, wann Menschen ihm die Wahrheit sagten und wann nicht. Er hatte sofort gespürt, dass Riad jedes Wort ernst meinte. Dann hatte ihm der Anwalt hundertprozentige Unterstützung zugesagt: „Wie Sie sicher wissen, hat mein Klient mächtige Freunde. Sie wären vielleicht überrascht, wie weitreichend diese Verbindungen sind. Wenn Sie also auf Schwierigkeiten stoßen, die Sie in Ihren Ermittlungen behindern – egal welcher Art – dann zögern Sie nicht, mich das wissen zu lassen. Rufen Sie mich bitte unverzüglich an, zögern Sie nicht! Dies gilt zu jeder Tages- und Nachtzeit!“
Wieder erkannte Faris klar, dass dies keine leeren Worte waren. Aber auch, dass es ein Angebot war, das Riad nicht leichtfertig machte. Er konnte nicht leugnen, positiv angetan zu sein, angesichts der unkomplizierten Kommunikation mit dem Anwalt. Der letzte Rest seiner Vorurteile schwand, als Faris sich nach den Erwartungen Taib Riads in Bezug auf die Regelmäßigkeit des Austauschs von Informationen über die Ermittlungen erkundigte. Der Kommissar hatte mit einer Aussage wie „rufen Sie mich jeden Mittag um 11 Uhr an“ gerechnet, am besten noch verbunden mit einer Phrase wie „und ich will Ergebnisse sehen“. Er hätte nicht sagen können, wie er auf diese Art der Bevormundung reagiert hätte. Doch erneut hatte Taib Riad ihn positiv überrascht: „Herr Kommissar, wie mir Ihr heutiger Anruf zeigt, sind Sie ein Profi, der weiß, was er tut“, hatte er geantwortet. „Mein Klient möchte informiert sein, nicht Ihre Ermittlungen behindern. Ich überlasse es also ganz Ihrer Einschätzung, wann Sie der Meinung sind, über Ergebnisse oder neue Entwicklungen berichten zu können.“
Der Anwalt ließ Faris also freie Hand. Besser konnte es für den Kommissar nicht laufen. Offenbar wusste seine Exzellenz, wie wichtig es war, ihn seine Arbeit auf seine Weise machen zu lassen. Er musste zugeben, dass er den Scheich damit gleich in mehrfacher Hinsicht falsch eingeschätzt hatte.
Seitdem hatte er noch zwei weitere Male mit dem Anwalt telefoniert, und jedes Gespräch war genauso unkompliziert gelaufen. Noch mehr freute es Faris jedoch, dass er immer positive Nachrichten zu vermelden gehabt hatte. Seinen Mitarbeitern war ebenfalls klar, wie sensibel dieser Mordfall war. Das Wichtigste war jedoch, dass Leila keine Unbekannte in Alessia war. Sie hatte sich in den letzten Jahren aus dem Nichts einen Namen aufgebaut, der stets mit Sympathie und Respekt genannt worden war. Nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern oft genug auch durch persönlichen Einsatz hatte sie diverse Hilfsprojekte unterstützt. Niemand wusste zwar genau, was ihr und ihrem Vater damals angetan worden war, als man ihre Karawane überfallen hatte, denn weder sie noch der Scheich hatten Details preisgegeben. Doch die Anzahl der Toten sprach für sich – nur ein Bediensteter und Leila selbst hatten die Tragödie überlebt. Man munkelte, dass Leila damals durch die Hand der Mörder ihrer Familie körperliche Misshandlungen hatte erleiden müssen, weshalb es ihr stets besonders am Herzen gelegen hatte, sich für Frauen in schwierigen familiären Situationen einzusetzen. Wie ungerecht, dass Leila nun erneut das Opfer einer Gewalttat geworden war. Und nicht nur das: Auch derselbe Bedienstete, der damals überlebt hatte, war mit betroffen. Er war eine der beiden weiteren Leichen, die man im Vorratsraum des Anwesens gefunden hatte.
Faris‘ Leute hatten in den letzten beiden Wochen jeden Stein in Alessia umgedreht. Mit jedem Tag waren neue Informationen hochgekommen, die Licht in die einzelnen Stationen dieses Sedats in der Stadt gebracht hatten.
Mai 1989 – Zarifa: Bergwelt – Der Zorn Allahs
Sedat spürte Erleichterung, als ihn in diesem Moment einer seiner Männer aus seinen peinigenden Gedanken und Selbstvorwürfen riss: „Herr, wir sind nun mit der Durchsuchung des Lagers fertig. Diejenigen, die Ihr hier vor Euch seht, sind alle, die noch geblieben sind. Was sollen wir mit ihnen machen?“
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