Sedat war in den vergangenen zwei Jahren zu dumm und zu stolz gewesen, die einmal im Zorn ausgesprochene Verbannung zurückzunehmen. Er selbst war es gewesen, der seine Männer dazu aufgefordert hatte, Rayan für seinen Verrat erst noch büßen zu lassen, bevor man ihn hinrichtete. Bei Allah! Der Rücken seines Jungen war von blutigen Striemen derart überzogen gewesen, dass kaum noch unverletzte Haut zu sehen gewesen war. Bei der Erinnerung an diesen schaurigen Anblick, glaubte Sedat einen Moment lang, alles würde sich um ihn drehen. Er musste all seine Körperbeherrschung aufbringen, um sich nicht auf der Stelle zu übergeben.
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt: im Hotel – Der Tag der ersten Male
Als Rayan aus dem Hotel hinaus auf die Straße trat, musste er die Hand vor die Augen nehmen, um sich vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen. Sein Kopf fühlte sich an wie eine Glocke, auf der man gerade zur Mittagsstunde schlug. Er fluchte.
„Tja, das ist der Preis dafür…“, ließ sich Hanif grinsend vernehmen, was ihm einen bösen Blick von Jassim einbrachte. Dem Scheich entlockte es nur einen weiteren Fluch. „Dein Respekt mir gegenüber lässt mit jedem Tag ein wenig mehr zu wünschen übrig“, knurrte Rayan gereizt. Aber im Grunde wusste er, dass sein Begleiter recht hatte und auch, dass er den gutmütigen Spott verdient hatte. Auch wenn er das nie laut sagen würde, schämte er sich für seinen Zustand. Er verfluchte den ganzen gestrigen Tag, denn er war in vielerlei Hinsicht ein Tag der ersten Male gewesen. War es wirklich erst gestern früh gewesen, da er seinem Cousin Sedat zum ersten und einzigen Mal in die Augen gesehen hatte? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
Natürlich war nach den Schüssen erst einmal die Hölle losgebrochen, die Soldaten rund um den Stützpunkt waren mit lauten Rufen „Sniper“ – Heckenschütze – in Deckung gegangen. Auch der Oberst hatte sich flach auf den Boden geworfen. Irgendwer hatte auch einige Salven abgefeuert, doch nachdem alles so schnell gegangen war und niemand bemerkt hatte, aus welcher Richtung die Schüsse auf Sedat gekommen waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als nach einigen Minuten Entwarnung zu geben.
Es war nicht überraschend, dass der Oberst mehr als wütend gewesen war, dass sein wertvoller Informant direkt vor seinen Augen ermordet worden war. Rayan fragte sich noch immer, was für Lügen Sedat dem Amerikaner aufgetischt hatte, dass der ihn so versessen zu retten versucht hatte. Denn mit welchen Informationen hätte sein Cousin schon aufwarten können? Andererseits hatte er Sedat zu oft unterschätzt – was wusste er schon, was der Kerl in seinem Leben vor dem Anschlag auf Damaris und seinem Angriff auf Zarifa gemacht hatte? Vielleicht hatte er dem Amerikaner ja wirklich etwas zu bieten gehabt – doch dazu war es nun zu spät. Der feige Mörder hatte sein Wissen mit ins Grab genommen.
Zähneknirschend hatte Toad sie gehen lassen, denn er hatte keinerlei Beweis, dass die drei mit dem Heckenschützen zusammenarbeiteten. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass der Kerl ein gefragter Mann in dieser Region ist!“, hatte Rayan gerufen. Da er den Oberst nicht weiter hatte herausfordern wollen, verbiss er sich jegliches Gefühl von Genugtuung. Er leugnete nicht nur seine Verbindung zu der Tat, sondern gab sich zudem verärgert. „Ich wollte den Mann BEFRAGEN! Nicht ihn töten.“ Dabei gelang es ihm, so überzeugend erzürnt auszusehen, dass er erfolgreich beim Oberst Zweifel säen konnte, ob nicht tatsächlich noch eine dritte Partei mit im Spiel war. Gut so! Rayan war froh, dass Hummer diesmal auf seinen offenen Triumph verzichtete, schließlich wusste man nie, wann man sich noch einmal über den Weg lief. Doch der große Amerikaner war nicht dumm. Auch er wusste, wann es besser war, sich keine Feinde zu machen. Mit der Drohung, sie „beim nächsten Mal einfach über den Haufen zu schießen“, ließ der Kommandeur sie gehen.
Das zweite Novum war dann am gestrigen Abend passiert: Rayan hatte sich nicht lange überreden lassen, seinen beiden amerikanischen Freunden Hummer und Cho in eine Kneipe zu folgen und sinnlos dem Alkohol zu frönen. Es war sein Versuch, mit Leilas Verlust und dem viel zu gnädigen Tod des Mörders Sedats klarzukommen. Hanifs Kugel mitten in die Stirn hatte zu einem sofortigen Tod geführt – und die Tarmanen ihrer Chance auf blutige Rache beraubt. Der Trost, dass der Hund ihnen dadurch zumindest nicht wieder entwischt war, war nur gering. Woher sollten sie nun Informationen bekommen, wer Leila getötet hatte? Wie es aussah, hatte sein Cousin ihm selbst im Tod noch einmal ein Schnippchen geschlagen. Denn mit ihm war vermutlich jede Chance gestorben, zu erfahren, was wirklich in Alessia passiert war.
Der Scheich konnte nur noch hoffen, dass sich aus den Ermittlungen des Kommissars Faris bei der Transportfirma und am Flughafen ein klares Bild ergeben würde. Doch so wie bisher alles gelaufen war, hatte er seine Zweifel, ob dies möglich sein würde. Sedat war einfach zu vorsichtig und auch zu clever gewesen, um Spuren zu hinterlassen. Immerhin blieb ihnen noch die Hoffnung, Leilas Mörder zu finden, denn dass dies nicht Sedat selbst gewesen war, war ihnen klar geworden, als sie feststellen mussten, dass dieser schon vor ihnen in der Kaserne eingetroffen war. Er war also zu Leilas Todeszeitpunkt gar nicht mehr vor Ort gewesen. Wenn sie diesen Mann fänden, könnten sie sicher von ihm die fehlenden Informationen erhalten. Rayan hatte schon eine sehr detaillierte Vorstellung davon, wie seine Vergeltung für die Ermordung seiner Schutzbefohlenen aussehen würde. Im Anschluss würde der Mann darum betteln, ihm die kompletten Abläufe in Leilas Haus haarklein schildern zu dürfen!
Nur mit Mühe war Jassim gestern Abend davon zu überzeugen gewesen, dass er besser im Hotel bleiben sollte, weil er sich in einer Kneipe, die noch dazu zu 95% mit amerikanischen Soldaten gefüllt war, bestimmt nicht wohlfühlen würde und dass sein Herr in der Begleitung seiner beiden amerikanischen Freunde sicher war. „Vor Fremden ist er mit Hummer und Cho bestimmt sicher“, dachte sich Jassim, „nicht jedoch vor sich selbst!“ Doch er behielt seine Bedenken für sich. Wie ein gefangener Tiger im Käfig war Jassim im Zimmer auf- und abgelaufen, bis die drei Männer irgendwann lange nach Mitternacht zurückgekommen waren. Dann hatte sich herausgestellt, wie berechtigt die Befürchtungen des Leibwächters gewesen waren, denn der Herr der Tarmanen hatte versucht, seine Emotionen im Alkohol zu ertränken – jede Menge davon. Wie es schien mit mäßigem Erfolg.
Jassim hatte seinen Herrn noch nie alkoholisiert gesehen und wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Natürlich hatte Rayan schon in der Vergangenheit Alkohol getrunken. Vor allem zusammen mit Frauen hier und da ein gutes Glas Wein oder Champagner. Auch den Genuss eines hochwertigen alten Whiskys wusste er durchaus zu schätzen. Doch hatte er stets nur so viel genossen, dass man ihm keinerlei Wirkung angemerkt hatte. Der Scheich hielt grundsätzlich nicht viel davon, seine Sinne zu betäuben. Doch diesmal ließ er sich zum ersten Mal in seinem Leben von Cho und Hummer zu einer Sauftour überreden. Die beiden waren außer Rand und Band, dass ihr Freund „endlich einmal Vernunft angenommen hatte“ und sie begleitete. Bisher waren all ihre Versuche, ihn von den Vorteilen einer Kneipentour zu überzeugen, stets vergebens gewesen. Also sahen sich Jassim und Hanif nun mit der Situation konfrontiert, dass ihr Anführer nicht mehr in der Lage war, gerade zu gehen, geschweige denn, normal zu sprechen. Zum Glück war Rayan trotz seines benebelten Hirns klug genug, sich einfach ohne weitere Worte auf sein Bett fallen zu lassen und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
17. Mai 2016 – Alessia – Unbestätigte Vorurteile
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