Sedat brauchte nur Sekundenbruchteile, um in die Realität zurückzufinden. Auch jetzt kam ihm dabei seine jahrelange Erfahrung zugute. Und doch gab es einen entscheidenden Unterschied zu früheren Situationen: Erstmalig machte sich der Scheich die Mühe, in der Miene seiner Untergebenen zu lesen. Was sahen die umstehenden Krieger in ihm? Das Resultat erschreckte Sedat. Denn ohne Zweifel verrieten die grimmigen Mienen, dass seine tarmanischen Krieger erwarteten, nun ein Todesurteil von ihm zu hören. Und sie versuchten, sich so gut es möglich war, auf diesen grausamen Befehl vorzubereiten.
Es waren etwas mehr als 200 Personen, die seine Krieger zusammengetrieben hatten. Viele von ihnen waren aufgrund der Auseinandersetzungen verwundet. Ohne den vergifteten Einfluss seines gekränkten Stolzes und seiner unbändigen Wut, sah Sedat zum ersten Mal, was die „Rebellen“, die er so sehr verteufelt hatte, wirklich waren: eine Ansammlung von teils zornigen, überwiegend aber verängstigten Individuen, denen nichts mehr geblieben war. Sie waren keine feindlichen Kämpfer, sondern einfache Menschen, Handwerker, Bauern, Frauen und Kinder. Und seine Männer trauten ihm zu, diese nun abschlachten zu lassen wie Vieh? Erneut ekelte sich Sedat vor dem, was aus ihm geworden war. Denn hatte er nicht genau diesen Befehl schon mehrfach erteilt? Alle zu töten, auch die Frauen? Schlagartig erkannte Sedat, dass sein Leben an einem Wendepunkt angelangt war. Glasklar sah er, dass er zum Mörder geworden war. Ihm würde einst kein edler Platz im Paradies reserviert sein. Sein Stern würde, genau wie seine gesamte Linie, für immer vergehen. Und genau das hatte er verdient, nicht mehr und nicht weniger.
Einen kurzen Moment lang streiften seine Gedanken zu seinem zweiten Sohn, Daoud, der gerade einmal neun Jahre alt war. Doch aufgrund dessen Behinderung würde dieser wohl niemals einen Erben hervorbringen. Sedat hätte dieses Ereignis bei der Geburt als das erkennen müssen, was es wohl gewesen war: eine Prüfung Allahs. Anstatt sie mit Anstand zu meistern, wie es einem wirklich edlen Charakter geziemt hätte, hatte er versagt, war vom rechten Weg abgewichen.
Energisch verdrängte Sedat in diesem Moment das Selbstmitleid. Er war Krieger genug, dass er seine gerechte Strafe annehmen würde. Immerhin konnte er eines tun: diese Menschen, die man vor ihm zusammengetrieben hatte, verschonen. Vielleicht würde das den Zorn Allahs ein wenig besänftigen.
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt: im Hotel – Das eigen Fleisch und Blut
Hanif bereute es zunächst fast ein wenig, sich dem Trio nicht angeschlossen zu haben. Er hatte sich brütend aufs Bett gesetzt und war in seine düsteren Gedanken versunken. Normalerweise war es für den Tarmanen ein furchtbares Gefühl, ein Leben zu nehmen. Im Gegensatz zu seinem Bruder Rayan, der in dieser Hinsicht keinerlei Bedenken zu haben schien.
Doch dieses Mal war anders. Dieses Mal spürte er eine dämonische Freude, denn der Mörder seiner Verlobten war durch seine Hand gerächt worden. Auch wenn dieser Mann Leila nicht eigenhändig ermordet hatte, so war es doch auf seinen Befehl hin geschehen. Weder Rayan noch Hanif konnten ahnen, dass Sedat keinerlei Interesse an Leilas Tod hatte – im Gegenteil, sein Plan war darauf ausgelegt, dass die schöne Alessianerin von ihren „Erlebnissen“ mit Sedat berichten würde. Doch das sollten die beiden erst sehr viel später erfahren. Trotzdem war Sedat für Leilas Tod verantwortlich. Von den vielen Opfern in Zarifa und Damaris, die Sedat auf dem Gewissen hatte ganz zu schweigen. Im Grunde schämte Hanif sich ein wenig, dass ihm die Ermordung eines Menschen so viel Genugtuung verschaffte, das war für einen gläubigen Menschen keine korrekte Einstellung. Irgendwann war er eingenickt, weshalb er aus einem verwirrten Traum aufschreckte, als Rayan und seine beiden Freunde nicht gerade subtil, sondern laut polternd ins Hotel zurückkehrten.
„Na zum Glück halten ihn alle für einen Amerikaner – von denen erwarten die Leute nichts anderes als so einen peinlichen Auftritt“, schimpfte Hanif, kurz nachdem Rayan eingeschlafen war. Jassim starrte seinen Freund entsetzt an. „Vorsicht bei dem, was du sagst, Hanif! Auch wenn ihr euch nahesteht, ist er noch immer dein Herr. Ich lasse nicht zu, dass irgendjemand respektlos über ihn redet – das gilt auch für dich! Außerdem solltest gerade du wissen, wie sehr ihm Leilas Tod zu schaffen macht.“ Hanif wollte etwas Beschwichtigendes entgegnen, denn im Grunde verstand er Rayan sogar sehr gut. Aber der sonst eher wortkarge Jassim überraschte ihn, indem er ihn nicht zu Wort kommen ließ: „Und immerhin ist es sein Cousin, der da gestern gestorben ist. Hast du dir das schon einmal überlegt? Was würdest du empfinden, wenn dir klar wäre, dass es dein eigenes Fleisch und Blut war, das so viel Leid über Zarifa gebracht hat?“
So hatte Hanif die Situation noch nie betrachtet, und beschämt über seinen spöttischen Kommentar schwieg er.
17. Mai 2016 – Alessia – Ein gewissenloser Bastard
Faris konnte wirklich stolz auf sein Team sein. Diese hatten in den letzten beiden Wochen Außerordentliches geleistet! In teils mühevollen Befragungen hatten sie sich immer weiter vorangearbeitet auf der Spur Sedats. Die Art und Weise, wie der Mörder aus dem Flugzeughangar entkommen konnte, war auf der Hand gelegen, also hatte man mit der Befragung der Monteure der Firma angefangen, die für die Wartung der Transall verantwortlich waren. Zwar erinnerten sich die beiden zuständigen Techniker an keine Auffälligkeiten an dem besagten Tag, doch hatte einer ihrer Kollegen Sedat eindeutig auf einem Foto erkannt. Er war ihnen auf der Straße vor ihrer Arbeitsstelle entgegengekommen, als sie von ihrer Mittagspause zurückkamen. Der Monteur wusste das deshalb so genau, weil er das selbstzufriedene Grinsen des unattraktiven Mannes eigenartig fand. Wie nahe er dem Tod gewesen war, noch mehr aber seine beiden Kollegen, die die Transall an diesem Tag gewartet hatten, ahnte keiner von ihnen. Hätten die Männer Sedat entdeckt, hätte dieser den Schraubendreher, den er sich aus dem Werkzeugkoffer im Transporter genommen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken als tödliche Waffe eingesetzt. Nur der Kommissar dachte sich seinen Teil, behielt seine Meinung aber für sich, weil er niemanden unnötig beunruhigen wollte. Es war ja nichts passiert. Dort an der Werkstatt zumindest nicht.
Ein schwieriger zu erlangendes Puzzleteil war es gewesen, wo Sedat danach hin verschwunden war. Es waren aufwändige Befragungen einer Unzahl von Taxifahrern notwendig gewesen, bis derjenige gefunden war, der Sedat eine Straßenecke entfernt von der Firma der Flugzeugtechniker aufgenommen und am westlichen Stadtrand abgesetzt hatte. Dort war die Spur erst einmal wieder versandet, weil Sedat nicht so dumm gewesen war, sich bis vor die Haustür seines Freundes fahren zu lassen.
Nur dank weiterer Laufarbeit einer Vielzahl von Beamten, die von Laden zu Laden in dieser Gegend gegangen waren, Fragen gestellt und Sedats Foto herumgezeigt hatten, hatte ein junger Beamter die Fährte wieder aufnehmen können. Die Besitzerin eines Gemüseladens erinnerte sich, gesehen zu haben, wie Sedat mehrere Male im Hauseingang gegenüber verschwunden war. Wie viele Ladenbesitzer verbrachte sie die meiste Zeit damit, das Treiben auf der Gasse vor ihrem Laden mit Argusaugen zu beobachten. Misstrauisch registrierte sie jeden Fremden. Anfangs, weil so mancher Tourist es als „nicht schlimm“ empfand, sich im Vorbeigehen einen Apfel oder eine Tomate zu greifen, doch inzwischen war der Grund schlicht und ergreifend Neugierde gepaart mit Langeweile.
Die ältere Frau hatte sich Sedat deshalb gemerkt, weil er ihr unsympathisch erschien, nie grüßte und sich vor allem stets scheinbar unauffällig umsah – so jemand musste doch einfach etwas zu verbergen haben! „Ich habe es gleich gewusst!“, teilte sie dem jungen Polizisten triumphierend mit. „Meine alte Nase riecht so etwas!“, fügte sie selbstgefällig hinzu und tippte sich an ihr Riechorgan. Sie konnte sich auch noch haarscharf daran erinnern, wie lange Sedat im Haus gegenüber übernachtet hatte. Wenn man sonst den ganzen Tag über nicht so viel zu tun hat, waren derlei Abwechslungen willkommen und wurden zelebriert. Entsprechend konnte sie nun zum Glück den Polizisten detaillierte Hinweise geben, die sie dazu auch noch freigebig mit den Beamten teilte. Sie hatte lediglich drauf bestanden, ihre Aussage im Polizeirevier zu machen. Der Hintergrund war Faris schnell klar: Sie würde im Anschluss diese Geschichte bei ihren Freundinnen ausschlachten. Lächelnd stellte er sich die älteren Damen beim Kaffeeklatsch vor. Doch als ihm wieder bewusst wurde, weshalb er hier ermittelte, verging ihm das kurze Amüsement schnell.
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