Neugierig sah Lene in den Flur. Unwillkürlich hielt sie die Luft an. So eine Pracht! Ein dunkelrot gemusterter Teppich zog sich über die ganze Länge, dunkelrot mit goldenen Ranken auch die Tapeten, braun und gold die überhohe Decke, in ihrer Mitte eine prächtige goldene Stuckrosette. Drei Petroleumlampen brannten, dennoch herrschte ein geheimnisvolles Dämmerlicht. Linker Hand ragte ein monströses Möbelstück aus dunkel gebeiztem Holz in den Flur — fast wie ein griechischer Tempel aus einem Buch des Herrn Lehrer sah es aus: Säulen trugen einen figurengeschmückten Fries, unter dem einige schmiedeeiserne Kleiderbügel hingen, zwei göttinnenartige Wesen hielten einen großen Kristallspiegel, ein Mohrenkind reckte eine silberne Schale in die Höhe. Auf beiden Seiten dieses Tempels hing eine Sammlung von Schwertern und Spießen an der Wand. Vom Ende des Flures starrten Lene furchterregende Masken irgendwelcher wilden Völker entgegen.
Nun öffnete sich die angelehnte Tür unter den Masken und eine Dame trat hindurch und kam auf Lene zu, ein kleines, weinendes Mädchen auf dem Arm.
Lene machte einen Knicks und grüßte.
„Dich schickt der Herr Polizeihauptmann?“, fragte die Dame und runzelte die Stirn. Ihre Stimme klang genervt und eine Spur zu schrill. „Mein Gott, du kommst wohl frisch vom Land? Dabei habe ich ihn doch gebeten ... Na, wenn der gnädige Herr dich engagiert hat, da kann man nichts machen. Hoffentlich schlägst du mir nicht die Gläser und das Porzellan kaputt! Das ziehe ich dir vom Lohn ab, das sage ich dir gleich! Jetzt komm erst mal rein! Wie heißt du überhaupt?“
„Lene Schindacker, gnädige Frau.“ Es war, als gehe eine Tür in ihr zu, die sich gerade einen Spalt weit geöffnet hatte. Nein, die Frau Polizeihauptmann hatte nichts mit der Frau Lehrer gemeinsam.
„Gut, Lene! Hör zu, ich habe jetzt keine Zeit, dir alles zu zeigen und zu erklären. In einer Stunde kommt der gnädige Herr nach Hause, dann muss alles in Ordnung sein und das Abendessen auf dem Tisch stehen. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht! Ich habe deine Vorgängerin fristlos entlassen müssen, sie hat in meiner Abwesenheit ihren sogenannten Bräutigam in meiner Küche empfangen! In meiner Küche! Und nun stehe ich alleine da mit der ganzen Arbeit, und Olgachen ist auch noch krank! Komm mit, zieh dir erst mal was Trockenes an, und dann kannst du gleich das Zimmer in Ordnung bringen und den Tisch decken!“
Hinter der gnädigen Frau betrat Lene das Zimmer am Ende des Flures. Ein schmaler, nach links führender langer und düsterer Schlauch war es mit einem einzigen Fenster im linken Eck. Ein mit Spiel- und Malsachen übersäter Tisch stand vor diesem Fenster. Der ganze Raum war mit dunklen Möbeln überladen, zwei Jungen bauten am Boden mit Bausteinen. Neben dem Tisch gab es eine weitere Tür — wie groß war diese Wohnung denn noch?!
Die gnädige Frau öffnete diese zweite Tür. „Die Küche!“, sagte sie knapp. Lene hätte beinahe einen Schrei der Bewunderung ausgestoßen. In letzter Sekunde schloss sie wieder den Mund, die gnädige Frau sollte nicht merken, dass sie so etwas noch nie gesehen hatte, sonst hieß es nur wieder, man merke, dass Lene vom Land kam!
Lene hatte davon gehört, dass es Küchen gab, die keine rauchgeschwärzten kleinen Löcher waren, weil in ihnen nicht über einem offenen Feuer in der Esse gekocht wurde, sondern auf richtigen Öfen, die man Kochmaschinen nannte. Die Frau Lehrer hatte immer davon gesprochen, wie sehr sie sich so eine Küche wünschen würde — aber so schön hatte Lene sich eine solche Küche nicht vorgestellt! Ein großer, heller Raum mit zwei Fenstern zum Hinterhof und weiß gestrichenen Wänden. Steinfliesen am Boden, ein Tisch in der Mitte, ein weiß und blau lackiertes Buffet, Wandborde mit Kupfertöpfen und -pfannen, mit in blauen Blumenmustern bemalten Steingutkrügen und -schüsseln, mit Schneidebrettern und Tellern aus Porzellan, halbhohe Kommoden und Schränkchen, auf denen eine Küchenwaage mit Marmorplatte, ein Bolzenbügeleisen und eine Ansammlung von Haushaltsgegenständen, die Lene nicht einmal kannte, ihren Platz hatten, und da die berühmte Kochmaschine, der Traum der Frau Lehrer: Wie ein rechteckiger Ofen sah sie aus, weiß emailliert die Wände, aus Messing die wie Löwentatzen geformten Füße, silbrig glänzend die Griffe, tiefschwarz die Herdplatte.
„Da oben auf dem Hängeboden ist dein Schlafplatz“, erklärte die gnädige Frau und wies auf ein Brett, das unter der Decke über dem Herd eingezogen war. „Da kannst du auch dein Gepäck verstauen und dich umziehen! Dort hinter dem Vorhang ist die Leiter! Mach schnell, ich muss an den Herd!“ Damit eilte die gnädige Frau aus der Küche.
Lene wollte gleich dem Befehl gehorchen, da entdeckte sie den emaillierten Ausguss an der Wand und darüber den blitzenden Hahn. Sie stockte mitten in der Bewegung. Sollte es hier tatsächlich fließendes Wasser geben? Sie hatte davon gehört — auch darüber hatte die Frau Lehrer gesprochen —, aber dergleichen noch niemals gesehen. Vorsichtig drehte sie an dem Hahn. Sofort kam Wasser heraus, spritzte in den Ausguss und verschwand wieder durch ein Loch. Lene strahlte. Sie schloss den Hahn und öffnete ihn wieder, versuchte es noch einmal und noch einmal. Was für ein unerhörter Luxus! Nie wieder würde sie frisches Wasser vom Brunnen herein- und Schmutzwasser hinausschleppen müssen! Was das Zeit und Kraft sparte! Unzählige Male jeden Tag war sie daheim mit dem Wassereimer hin- und hergegangen. Hier würde die Arbeit nicht so schwer sein wie bei der Frau Lehrer. Vielleicht hatte sie es ja doch gut getroffen.
Sie beugte sich unter den Wasserhahn und ließ sich den kühlen Strahl in den Mund laufen, trank ausgiebig. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken das Gesicht ab und holte die Leiter hervor. „Reinlichkeit das Herz erfreut“ war mit Rosenmuster umrankt auf den Vorhang gestickt. Lene grinste. Dass es bei der Frau Polizeihauptmann nicht besonders reinlich war, hatte sie gleich gemerkt. Bei der Frau Lehrer jedenfalls hatte nie so viel Staub auf den Möbeln gelegen, wie es in dem Zimmer nebenan der Fall war.
Sie legte die Leiter an den Hängeboden und stieg hinauf. Vergebens versuchte sie hineinzukriechen, die Rückentrage war im Weg. Auf der Leiter balancierend nahm sie die Trage ab und schob sie vor sich auf das Brett, beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. Endlich gelang es ihr, auf allen vieren in den Verschlag zu kriechen. Er war kaum höher als ein Meter, im Sitzen stieß sie sich beinahe den Kopf. Eine Matratze mit Kissen und Decke lag darin, sonst nichts. Aber schön warm war es hier oben. Mühsam schälte Lene sich aus dem nassen Kleid, dauernd eckte sie an Decke oder Wand an. Es dauerte lang, bis sie sich in ihr Konfirmationskleid gezwängt hatte. Eigentlich war es eine Schande, dieses kostbare Kleid zur Arbeit anzuziehen, aber sie hatte nichts anderes. Sie nahm noch eine blaue Schürze aus der Trage, breitete das nasse graue Kleid zum Trocknen aus und kletterte wieder nach unten. Als sie sich eben die Schürze umband, kam die gnädige Frau zurück.
„Hast du keine weiße Schürze?“
„Nein, gnädige Frau!“
„Das darf doch wohl nicht wahr sein! Du musst dir morgen zwei große weiße Schürzen und zwei kleine zum Servieren kaufen und auch gleich zwei weiße Häubchen, die wirst du dann ja wohl auch nicht haben! Ich borge dir das Geld, wenn du es nicht hast, und behalte es dann von deinem Lohn ein. Das Kleid ist immerhin ganz passabel, wenigstens schwarz! Das graue kannst du zur Hausarbeit tragen, aber wenn der gnädige Herr zu Hause ist und du bedienen musst, immer das schwarze! So, und jetzt geh ins Berliner Zimmer!“
„Berliner Zimmer?“, fragte Lene verständnislos.
„Du weißt ja nicht einmal die einfachsten Sachen! So ein Durchgangszimmer wie nebenan, das den repräsentativen Teil der Wohnung mit den Räumen zum Hof hin verbindet, nennt man Berliner Zimmer! Unter der Woche halten wir uns die meiste Zeit darin auf. Meinst du, ich lasse die Kinder im Salon spielen? Also räum die Spielsachen auf und mach schnell noch etwas sauber, es muss dringend Staub gewischt werden, die Staublappen sind hier in dem Körbchen. Dann deck den Tisch, die Tischdecke liegt in der untersten Kommodenschublade obenauf. Das Geschirr mit dem einfachen blauen Rand, Suppenteller und kleine Teller, nur für drei Kinder, ich bringe Olga schon ins Bett!“
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