Er faltete die Zeugnisse zusammen, steckte sie in das Gesindebuch, öffnete eine Schreibtischschublade, legte das Gesindebuch hinein, schob die Schublade zu und schloss sie ab. „Deine Papiere behalte ich hier für dich in sicherer Verwahrung, solange du bei mir in Dienst bist!“, erklärte er gelassen und sah ihr kühl ins Gesicht. „Das ist besser so! Du glaubst nicht, wie oft Gesindebücher verloren gehen! Bis heute Abend, Lene!“
Sie floh aus seinem Zimmer, den Flur entlang, die Stufen hinunter, stand auf der Straße. Ein Pferdeomnibus hielt, sie kletterte hinauf und zwängte sich durch die schmale Tür. Mit der Rückentrage fegte sie einem sitzenden Arbeiter die Mütze vom Kopf. „Nun passen Sie doch auf, Fräulein!“, raunzte er sie an. Kein Sitzplatz frei, die mächtigen Pferde zogen an. Das Gefährt ruckte und sie klammerte sich am Geländer der nach oben führenden Treppe fest. Der Kondukteur kam mit dem Billet. Sie hielt ihm den Zettel mit der Adresse hin, aber er schüttelte den Kopf: „Da sind Sie in die falsche Richtung eingestiegen, Fräulein! Streng genommen müsste ich Ihnen den Preis trotzdem berechnen. Sie sind wohl fremd zugezogen, was?“
Lene nickte, zerknüllte den Zettel in ihrer Hand. „Heute!“
„Na dann, beim nächsten Halt raus und über die Straße rüber, und am besten fragen Sie, wann Sie aussteigen müssen!“
Wieder stand sie auf der Straße. Es hatte angefangen, in Strömen zu regnen, förmlich zu schütten; ein Frühjahrsgewitter ging nieder. Das Wasser floss ihr aus den Haaren, rann über ihre Wangen, als wären es Tränen.
Mit durchnässtem Kleid saß sie endlich im richtigen Pferdeomnibus, die Rückentrage hielt sie an sich gepresst auf dem Schoß. Auf einmal war ihr alles auf merkwürdige Art gleichgültig. Der Polizeihauptmann hatte ihre Papiere behalten. Sie musste bei ihm dienen, hatte keine Wahl, na und? Beim Siewer-Bauern hatte sie auch dienen müssen und keiner hatte sie gefragt.
Hinter den beschlagenen Fenstern zog die Stadt vorbei, Haus an Haus, höher als die Kirche daheim waren die meisten. Selten ein Baum, nie ein Vorgarten oder auch nur eine Blume. Wie Ameisen die Menschen, eilig, hastig, keiner blieb stehen zu einem kleinen Plausch, keiner schien den anderen zu kennen.
Der Kondukteur bedeutete ihr auszusteigen. Sie kletterte aus dem Omnibus. Der Regen hatte nachgelassen. In der Ferne grollte der Donner.
Auf der Suche nach der richtigen Hausnummer kam sie an fünfstöckigen neuen Häusern mit strahlenden, wunderschönen Fassaden und reich dekorierten Toren vorbei, an einer Baustelle und an trostlosen Ruinen, in deren Erdgeschossen und Kellern noch Geschäfte ausharrten und auf großen Plakaten wegen bevorstehenden Abrisses mit Sonderangeboten warben.
Dann ging sie an alten, vergrauten Häusern entlang, deren Prachtzeit in ferner Vergangenheit gelegen haben musste und deren Front unter einer Flut von Reklametafeln kaum mehr zu erkennen war. So also ist es in Berlin, dachte sie und nahm jede Einzelheit in sich auf. Solange sie schaute, musste sie nicht denken.
„Plissee-Brennerei Woldemar Wimmer“, las sie halblaut, „Lotterie-Contor, Krügers Bierhaus, Besatzartikel Flach & Engel — was das wohl sein mag? —, Nähseiden Engros Isidor Salomon, Priesters Costumes, Röcke, Backfisch Kleider, Rauchwaren Gebrüder Feiler, Bäckerei & Conditorei, Privat Mittagstisch Wilhelm Pollin, Festsäle-Centrum, Destille. Was ist denn das?“
Dann hatte sie die Hausnummer dreizehn erreicht. Noch einmal verglich sie mit dem Zettel. Dreizehn, da stand es. Im Dorf daheim gab es kein Haus mit der Nummer dreizehn. Weil das eine Unglückszahl war. Hierher schien es zu passen.
Es war eines von den alten Häusern. Ein schönes Haus, bei dem man gleich sah, dass vornehme Leute darin lebten: Angedeutete Säulen hatte es zwischen den hohen Fenstern und reich mit steinernen Blumenranken und geflügelten Löwen verzierte Friese. Es war nicht von Reklametafeln entstellt, dafür schmückte es ein kunstvolles Schild über dem hohen Tor, das von Wappen, Krone und zwei Marmorfiguren halbnackter Athleten gekrönt war. Weil hier ein Polizeihauptmann wohnte? Nein, das Schild verkündete die feinen Stahlwaren von Wilhelm Bankowsky, Hoflieferant Sr. Majestät des Kaisers und Königs. Noch größer wiederholte sich dieses Schild über dem Geschäft im Erdgeschoss, das selbiger Hoflieferant betrieb. Im weniger eindrucksvollen Nachbarhaus führte eine steile Treppe nach unten in einen Kellerladen. Milch u. Sahne. Obst, Gemüse & Südfrüchte versprach dort die Aufschrift auf dem Haussockel.
Das Tor zum Haus Nummer dreizehn stand offen. Lene trat in eine modrig riechende Einfahrt, die durch das Gebäude in den Hinterhof führte. Auch hier Schilder: Hausieren strengstens verboten!, Das Spielen der Kinder auf Hof Flur und Treppe sowie das Umherstehen vor der Haustüre ist streng untersagt! und neben der linker Hand ins Haus abgehenden Tür die Schilder mit den Namen der Haushaltsvorstände. Da stand er: Polizeihauptmann Adolf Grossmann, 2. Stock.
Etwas drückte Lene den Atem ab. Da war der Wunsch, umzudrehen, den Pferdeomnibus zum Bahnhof zu nehmen, ins Dorf zurückzufahren. Sie könnte sich doch noch beim Lenz-Bauern verdingen, er hatte noch keine neue Jungmagd gefunden, und der Herr Lehrer konnte ihr vielleicht helfen, dass sie ihre Papiere wiederbekam ...
Damit Grete dann zu ihr sagte: Erst waren wir dir nicht gut genug, aber nun haben sie dich in Berlin wohl nicht haben wollen, na ja, Hochmut kommt vor dem Fall!?
Nein! Nie wieder, hatte sie sich geschworen.
Lene strich sich das Wasser aus den Haaren, streifte umständlich ihre kostbaren Stiefel auf der Kokosmatte ab und stieg die Treppe hinauf. „Frisch gebohnert!“ behauptete ein Schild, das an einer Treppenstufe angeschraubt war, aber dass das nicht stimmte, sah Lene gleich. Die Treppenstufen waren grau und abgetreten.
Wenn man sie mit Sand scheuern, wachsen und polieren würde wie den Flur im Schulhaus, könnten sie wieder blitzen. Ja, das wollte sie gleich morgen tun. Dann würde die gnädige Frau zu ihr sagen: Wie du das machst, Lene! Ich wusste gar nicht, dass die Treppe wieder so schön werden kann! Und eine zweite Portion Nachtisch würde die gnädige Frau ihr geben, als Extralob. Bei so vornehmen Leuten gab es bestimmt jeden Tag Nachtisch und nicht nur sonntags wie bei Lehrers, und ganz besondere Sachen, von denen Lene bisher nur aus Büchern wusste, Zitronencreme und Schokoladenmouse oder so eine gute rote Grütze mit Vanillesoße, wie die Frau Lehrer sie zum Geburtstag vom Herrn Lehrer gekocht hatte ...
Lene nickte vor sich hin: Wenn sie fleißig war und ihre Arbeit gut machte, würde sie sich an den köstlichsten Sachen satt essen dürfen. Was wollte man mehr vom Leben? Und alles andere würde sich finden. Wahrscheinlich war der Herr Polizeihauptmann sowieso den ganzen Tag auf seiner Wache, es kam viel mehr auf die gnädige Frau an, und die war bestimmt ganz anders als ihr Mann. Sie hatte Kinder wie die Frau Lehrer, und die war zu ihr auch immer wie eine Mutter gewesen.
Entschlossen zog Lene an dem Klingelzug im zweiten Stock und hörte in der Wohnung das scheppernde Gebimmel der Glocke.
Kurz darauf folgte Poltern von schnellen, kurzen Schritten, aus der Tiefe der Wohnung drang Kindergeheul. Die Tür wurde aufgerissen. Ein Junge von sechs, sieben Jahren stand da und musterte sie. „Du tropfst!“, erklärte er. „Wer bist du?“
„Ich bin die Lene, euer neues Dienstmädchen!“ Sie lächelte ihm zu. Es schien ihr wie ein glückliches Vorzeichen, dass dieser Junge ihr die Tür geöffnet hatte. Nun würde alles gut.
„Ach so!“ Er drehte sich um und schrie in die Wohnung zurück: „Mutti, da ist die Neue!“
Читать дальше