Es lebe der Leistungszwang!
Sehnsucht nach der Kindheit
Ich betrachte das Foto. Mich und meine Schwester. Lachend in die Kamera, die Ärmchen um einander geschlungen, Kopf an Kopf. Braungebrannt, strahlend und unbesorgt.
Ich sehne mich so sehr in das Szenario des Bildes zurück, dass es mich schmerzt.
Ich zoome unsere Gesichter heran. Sie sind so schön, so unverbraucht – vollkommen heil. Was heißt schon Ästhetik. Nein, es sieht heil aus.
Lange liegt es zurück. Fünfzehn Jahre, vielleicht mehr. Viel ist passiert seit dem. Unsere Gesichter sind verändert. Habe ich mich verändert oder wurde ich verändert?
Während ich das Foto ansehe, betrachte ich meine Gegenwart in einem Handspiegel.
Bin ich es? Die Augen sind dieselben. Nein, nicht einmal das. Die Augen da auf dem Foto sind pur und rein. Jetzt sind sie geschminkt, um die Müdigkeit zu verbergen. Wohl nur die Seele ist die Selbe. Aber sie trägt andere Erlebnisse in sich.
Mein Gesicht hat sich verändert. Die weichen, reinen Formen sind härteren und unreinen Gesichtszügen gewichen. Vergangen das Gesicht im Kindchenschema, gewichen dem Antlitz einer jungen Frau. Mehr oder weniger schön. Gerade sehe ich Härte. Gewichen der kindlichen Symmetrie eine Physiognomie der Unvollkommenheit.
Trug ich dieses Gesicht schon immer in mir? Oder nahm es diese Formen an, da ich erlebte? Sähe ich anders aus, hätte ich anders erlebt und gedacht? All die Jahre! Viele kranke Gedanken. Haben sie mein Gesicht geformt?
So sehr sehne ich mich zurück in das Mädchen, das ich damals war. Der anderen Welt noch nahe. In Gewissheit. Voller Schönheit, voller Glück. Unbesorgt und Frei. In der Geborgenheit.
Und jetzt? Vermag ich mir selbst du geben, was ich brauche?
Ich beginne zu weinen. Salzige Tränen. Voller Zorn und einwenig Mitleid mit mir selbst.
Ich bin noch die Selbe. Nur bin ich nicht mehr gleich. Ich sage es mir und ich finde es trostvoll.
Höre Worte.
Höhere Worte.
Höre höhere Worte.
Sie sind laut.
Phonologisch verstanden, semantisch unverarbeitet.
Höre die Worte,
kenne sie, aber kann sie zu keiner Sinneinheit vereinigen.
Sinnzusammenhang.
Aber verstehe weder Sinn, noch Zusammenhang.
Haben Zusammenhänge Sinne oder hängen Sinne zusammen in einem Hang?
Sehne mich nach Stille.
Denn das Betäubungsmittel Lärm, wirkt bei mir nicht mehr.
„Da is ne Mücke!“, sage ich nüchtern in die Dunkelheit des Zimmers hinein. Die Nachricht erscheint mir vernichtend. Gerade noch bin ich friedlich dagelegen, um mich meiner Müdigkeit hinzugeben, als ich das bedrohliche Surren vernehme. Ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertsein breitet sich in mir aus. Es darf einfach nicht wahr sein! Eine Mücke! Meine Nachtruhe ist bedroht und es sieht ganz nach einem bevorstehenden Schlachtfest auf meine Waden, Hände, Fußgelenke, und sogar das Gesicht aus.
„Was machen wir jetzt?“, frage ich Johann ratlos und schläfrig. Der liegt auf der anderen Matratze und starrt hellwach und aufmerksam in die Dunkelheit hinein. Normalerweise halten wir es so, dass wir die ganze Nacht möglichst nah beieinander schlafen. Nur wenn es zu warm wird, rückt Johann ab, was ich als schweren Verrat anprangere. Die Matratze jedoch zwingt uns dazu unsere Gewohnheiten für den Aufenthalt in diesem Hotel aufzugeben. Sie ist in zwei Hälften geteilt, die selbst bei größter Bewegungsarmut innerhalb von kürzester Zeit auseinander driften. Eine unüberbrückbare Kluft. Erst haben wir versucht gemeinsam auf einer Matratze zu schlafen. Diese ist jedoch so weich, dass sie sich unter unserem Gewicht durchdrückt, so dass das Gesäß gefühlt am Boden aufschlägt. Im Gegensatz dazu ist der Kopfbereich so weit oben, dass das normale Liegen eher einer Sitzposition anmutet. Gezwungener Maßen muss also jeder auf seiner eigenen Matratze verharren. Um den Körperkontakt nicht ganz zu verlieren, halten wir uns hin und wieder an der Hand, was ich im Halbschlaf in meinen Traum integriere. Ich glaube dann, der Matratzenspalt sei die Schlucht der Burg von Ronjaräubertochter, ich als Ronja und Johann als Birk Borkasson.
„Ich schlage vor wir machen das Licht an und legen uns auf die Lauer“, entscheidet Johann. Es dauert eine Weile bis ich mich an das Licht gewöhnt habe und überhaupt etwas sehe.
Kerzengerade liegen wir jeder auf seiner Hälfte der Matratze, beide bis zum Hals zugedeckt. Kein unnötiger Zentimeter soll dem potentiellen Schlachtfest zum Opfer fallen. Das Autan steht leergesprüht auf dem Nachttisch. Es sind nur noch wenige Spritzer darin.
„Da! Ich hör sie!“, rufe ich.
„Ja, ich auch...es sind zwei!“
„Mist! Ein helleres Surren und ein Bass!“
Minuten vergehen wie wir konzentriert dem Surren nachhorchen und angestrengt versuchen die Angreifer zu entdecken.
„Siehst du was?“, fragt Johann, der bewaffnet mit einem italienischen Lustigen Taschenbuch unter der Decke liegt.
„Nee...“
„Da!!!“ Johann klatscht mehrmals vor sich in beide Hände. „Mist, nicht erwischt. Ich hatte sie und dann ist sie wieder rausgeflogen.“
Wieder liegen wir konzentriert auf der Lauer. Da springt Johann mit einem Satz auf, streckt seinen Arm aus und knallt das Comicheft gegen die weiße Wand. „Ha! Erwischt! Du mieses Ding, da liegt sie auf dem Boden!“
Ich jubiliere, und lobe den Einsatz des erfolgreichen Verteidigers.
„So, jetzt müssen wir nur noch die zweite erwischen“, stelle ich fest.
Nach einigen Minuten schlage auch ich hektisch und leicht panisch die Hände immer wieder vor mir zusammen. Vergeblich.
„Da! Da! Dort fliegt sie, da oben an der Wand!“, rufe ich, woraufhin Johann mit kühnem Wahnwitz in den Augen losstürzt und mit dem Comicheft heftig gegen den oberen Teil der Wand schlägt. Zufrieden begutachten wir den gerade entstandenen schwarzen Fleck an der Wand.
Johann wirft sich zurück aufs Bett. Dabei schlägt er sich den Ellenbogen an dem, auf Grund der auseinandertreibenden Matratzen nun freiliegenden Bettgestell, derart auf, dass er schmerzverzerrt in den Tiefen, der unter seinem Gewicht einsinkenden Matratze, versinkt.
„Oh nein! Geht’s?“, frage ich besorgt.
„Hm...ja, geht schon wieder“, antwortet er und reibt sich den Ellenbogen.
Wir machen es uns gemütlich, löschen das Licht und fischen gegenseitig nach der Hand des anderen, während der gerade erst frisch zusammengeschobene Matratzengraben, kaum merklich und dennoch tückisch, auseinander driftet.
Gerade als ich beginne mir Gedanken um den Zustand meines nun aktuellen Karmas zu machen, vernehme ich ein leises Surren an meinem Ohr...
Es ergab sich am Morgen eine Situation zwischen ihm und mir, die in mir starke Aggressionen und Trotzgefühle aktivierte. Ich legte mich aufs Bett, um den Ärger und Trotz anzuschauen. Er drückte mir auf den Brustkorb und ich fragte mich, was da gerade passiert war. Langsam beruhigten sich die Emotionen wieder. Ich sah, dass es nicht seine Schuld oder böse Absicht gewesen war. Ich verstand, dass sein Verhalten bei mir alte Verletzungen triggerte. Verletzungen, Rollen- und Selbstbilder, die ich in früheren Beziehungen gelernt hatte. Ich fühlte mich in bestimmten Situationen schnell bevormundet und unzulänglich. Unselbstständig. Vor allem fühlte ich mich gerade in meiner Privatsphäre nicht geachtet. Ein Übertritt in meine Intimsphäre. Ein Thema, was schon immer ein sehr fragiles in meinem Leben war. Und hier in Berlin war ich in dieser Hinsicht sehr herausgefordert. Ich hatte kein eigenes Reich. Ich fühlte mich als Dauergast, der nach einem Jahr Fernbeziehung zwei Regalbretter errungen hatte.
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