Irgendwann meldete sich Rosinante, die die missliche Lage des Mädchens zu erkennen schien. Der Hexenbesen löste sich aus ihrem Griff und erhob sich in Flugposition. Anschließend gab sie J.J. zu verstehen, dass sie sich darüber schwingen solle. Das Mädchen war erleichtert, dass der Besen nicht mehr sauer auf sie war, und sprang auf, ohne weitere Fragen zu stellen. Dann flogen sie gemächlich in Richtung des Wohngebiets, wo auch Ava mit ihrer Familie wohnt. Als sie das Haus dieser Junghexe, ein gigantisches Gebäude in Form einer Steinkamera, überflogen, musste sie schwer schlucken. Aber der Anblick der Luxus-Ferienanlage, die sich direkt an das Wohngebiet anschließt, lenkte von ihren düsteren Gedanken ab.
»Ein Tropenparadies! Wahnsinn. Das habe ich beim letzten Mal überhaupt nicht gesehen«, jauchzte sie los.
Rosinante sank langsam zu Boden und ließ J.J. vor dem Eingang des riesigen Hotelgebäudes absteigen. Als das Mädchen schüchtern die Lobby betrat, kam umgehend ein junger Mann auf sie zugeeilt und begrüßte sie aufs Herzlichste. Er wusste sofort, wer da vor ihm stand, und machte keinen Hehl aus seiner Verehrung. Auch wenn sie das Getue des Hotelangestellten affig fand, war J.J. beruhigt, dass sie mit ihrer Begrüßungsansage nicht gleich alle Xesthaner gegen sich aufgebracht hat. Mit ausgebreiteten Armen führte der Hotelangestellte sie durch ihre Suite und erklärte ihr ausführlich jedes Detail. Das Mädchen war erleichtert, als er endlich die Tür hinter sich verschloss. Nachdem sie den üppigen Obstkorb und eine Schachtel Pralinen geplündert hatte, nahm sie eine heiße Dusche. Anschließend schnappte sie Rosinante und flog erneut zum Amtsgebäude.
Eine neuartige Energie erwachte in ihr, die mit leiser Stimme begann, sie zu leiten. Die einzige Bedingung, die sich J.J. selbst stellte, war die, dass sie sich auf dieses neue Leben erst einmal vollkommen einlässt. Was auch bedeutete, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen.
J.J. Smith ist Geschichte. Nun ist sie Hexe Jezabel, die legendäre schwarze Prinzessin, unantastbar in ihrem Status. Um diese Entschlossenheit auch dem Hexenrat zu vermitteln, platzte sie einfach in Hystasias Büro und verlangte nach ihrer Amtseinführung. Die Hexe sah sie mehrere Minuten stumm an und rief daraufhin kurzerhand eine Dringlichkeitsversammlung des Hexenrats ein. J.J. durfte natürlich noch nicht daran teilnehmen, da sie offiziell noch kein Mitglied war. Also wartete sie in der Vorhalle und vertrieb sich die Zeit, indem sie den widerlichen Glugg mit ihren Possen auf die Palme brachte.
Nach zwei Stunden bat sie Hexe Cybill endlich nach oben und erklärte ihr, dass alle sechs Mitglieder zugestimmt hätten. J.J. war darüber nicht sonderlich erstaunt, da dieses Amt ihr sowieso zustand. Trotzdem hätte sie zu gern gesehen, wie diese Hexen krampfhaft nach einer rechtskräftigen Klausel suchen, um ihr dieses offizielle Amt vorzuenthalten.
Seit diesem Tag hat sich einiges geändert. Die Hexenratmitglieder hofierten das Mädchen zwar nicht, behandelten sie aber absolut respektvoll und ebenbürtig. J.J. fühlte sich in Xestha nicht fremd oder gar unerwünscht. Im Gegenteil, auch wenn die meisten Einwohner sich noch höflich zurückhielten, konnte sie ihre Aufregung spüren, wenn sie sich mit ihr unterhielten. Plötzlich schien es kein Problem zu geben, das sich nicht im Handumdrehen lösen ließe. Die Starre und Ziellosigkeit, die sie in den letzten Monaten lähmten und ihr den Lebensmut raubten, waren einer neuen, inspirierenden Energie gewichen, die sie scheinbar schwerelos durch die Tage trug.
So ist es nun schon eine Woche her, dass J.J. heimlich aus Havelock weggegangen ist.
Sie sitzt in ihrem Hotelzimmer und frühstückt eilig, da sie gleich einen wichtigen Termin im Amtsgebäude hat. Nervös starrt sie auf Rosinante und seufzt. Dieser tägliche Weg ist inzwischen zu einer Tortur geworden. Öffentliche Verkehrsmittel benutzt das Mädchen nicht mehr, da der Trubel um ihre Person doch sehr unangenehm ist. Sobald sie jemand erkennt, herrscht augenblicklich Hysterie. Es ist mittlerweile so schlimm, dass sie selbst im Hotel nicht mehr im Restaurant speisen kann. Jeder Zauberreichbewohner erkennt sie, da an jeder Ecke ihr Foto von riesigen Werbebannern prangt. Die schwarze Prinzessin ist, mehr denn je, das allumfassende Thema im dunklen Phad. Aber dieser Hype hat auch etwas Gutes. Er verschafft ihr ungewollt eine gewisse Distanz.
Das Mädchen stellt den Geschirrwagen auf den Gang und schlendert zum Ausgang. Hastig steigt sie auf Rosinante und begibt sich im Steilflug auf die Verkehrsebene. Im Zickzack fliegt sie zum Amtsgebäude, um ein paar aufdringliche Touristen abzuhängen, die ihr schon vor dem Hotel auflauerten. Genervt stapft sie ins Amtsgebäude, wo sie schon seit einer halben Stunde mit Hexe Cybill verabredet ist. Beim Pförtner muss sie sich inzwischen natürlich nicht mehr anmelden. Während der widerliche Glugg sie keines Blickes würdigt, geht sie also direkt zum Fahrstuhl durch. Die beiden haben ein unausgesprochenes Abkommen:
Er hasst sie, sie hasst ihn und dabei bleibt es!
Als sie das Büro von Hexe Cybill betritt, wartet dort noch eine andere Dame, die sie bis jetzt nur flüchtig kannte.
»Ah, Prinzessin Jezabel! Schön, dass du endlich da bist. Darf ich vorstellen: Hexe Strada, die wohl bekannteste Designerin Xesthas. Sie wird zukünftig für deine Garderobe zuständig sein. Sie ist extra hierhergereist, um Maß zu nehmen.
Während wir auf dich warteten, hat sie mir berichtet, dass ihr euch bereits bei einer Party im Hause deiner Großmutter kennengelernt habt.«
Die Kammerwächterin führt das Mädchen zu der alten Hexe, die sehr beschäftigt Nadeln und Stoffproben an einer Schneiderbüste befestigt. J.J. ist verblüfft, wie gekonnt Hexe Strada den hochwertigen Stoff drapiert.
»Ich freue mich, dich wiederzusehen, Hexe Strada! Es tut mir leid, dass du warten musstest. Vielleicht erinnerst du dich noch daran, dass ich auch sehr gern neue Schnitte ausprobiere. Damals auf der Party im Haus meiner Großmutter habe ich ein selbst entworfenes Kleid getragen. Na ja, es war nichts Großartiges. Wahrscheinlich ist es dir auch nur aufgefallen, weil es das langweiligste Kleid des Abends war. Kein Vergleich zu dem Papag… Ich meine natürlich zu dem bunten Hosenanzug, den du meiner Großmutter entworfen hattest«, stammelt das Mädchen nervös. Die alte Hexe blickt kurz auf und sieht sie mit einem eingefrorenen Lächeln an.
»Es ist mir eine außerordentliche Ehre, Hexe Jezabel! Wenn ich mir diese Feststellung erlauben darf: Du hast die gleichen Augen wie deine Großmutter!«
J.J. schluckt und blickt zu Boden.
»Das hat nichts zu bedeuten! Ich habe vielleicht ihre Augen, aber sonst unterscheiden wir uns doch sehr! Ich möchte dich bitten, dies bei deinen Vorschlägen zu berücksichtigen! Keine Hosenanzüge mit riesigen Mustern und keine knalligen Farben!«, zischt sie die verdutzte Designerin böse an.
Verunsichert von dem plötzlichen Stimmungswandel des Mädchens blickt Hexe Strada hilfesuchend zu Hexe Cybill. Der Kammerwächterin ist diese Situation mehr als peinlich, weshalb sie eilig das Gespräch übernimmt.
»Keine Angst, meine Liebe. Hexe Strada entwirft nur charakteristische Mode!
Hexe Strada, wie ich sehe, brauchst du noch ein paar Minuten. Ich werde diese Zeit nutzen, um noch etwas Dringendes mit der schwarzen Prinzessin zu besprechen!«
Sie lächelt der Designerin verlegen zu und zieht das Mädchen hinüber zu ihrem Schreibtisch. Dort drückt sie J.J. in den Besucherstuhl und sieht verstohlen zur Designerin. Mit ernster Miene nimmt sie einen Stapel Papiere und schiebt ihn dem Mädchen über den Schreibtisch.
»Das war nicht nötig, Jezabel! Wir Hexen gehen höflich miteinander um! Bitte überschätze deinen Status nicht! Ich möchte wissen, was dich dazu bewegt hat, derart die Fassung zu verlieren. Na gut, wir haben nur sehr wenig Zeit, um diese vielen Dinge hier zu erledigen.
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