Mein Herz zog sich zusammen beim Gedanken an das grauenhafte Schicksal dieses Fremden. Einen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, Rob nach seinem Namen zu fragen, war dann aber zu feige. Ein Name hätte das alles so viel realer gemacht, und ich wollte die Nacht im Lager am liebsten einfach vergessen. Sie vergessen oder sie so lange durchleuchten, bis alle Fragen beantwortet waren und sie mir keine Angst mehr machte. Doch dazu fehlten einfach zu viele Informationen.
Automatisch schaute ich in Robs ernstes Gesicht. Irgendetwas war da in seinen Augen, wenn er über den Vorfall in der Nacht sprach. Machte ihm das Schicksal des Mannes doch mehr zu schaffen, als er zugeben wollte? Rob blieb ein Rätsel. Wo war er heute den ganzen Nachmittag gewesen? Konnte das Überbringen der Papiere des Toten so lange gedauert haben und was wusste er über dieses Monster? Verschwieg er etwas? Eigentlich war ich mir sicher, dass er beinahe alles verschwieg und immer nur das Nötigste preisgab.
Kurz nachdem Rob das Gasthaus betreten hatte, kam ein älterer Mann durch die Tür. Er war groß, schlank, und sein graues Haar und der kurze Vollbart waren überdurchschnittlich gepflegt. Sein Gesicht war spitz-kantig und strahlte, wie seine ganze Haltung, eine gewisse Würde aus. Die exakt sitzende graue Hose passte optimal zu seinem grauen Hemd. Was ihn für mich so interessant machte: Er nahm in der mir bezeichneten Ecke des Schankraumes Platz.
Robs Augen folgten den meinen. „Also ist er das nun oder was?“
„Du bist ja wieder unvergleichlich hilfreich!“, giftete ich ihn an und lehnte mich tapfer zur Wirtin hinüber, um ein weiteres Mal die bereits bekannte Frage zu stellen. Sie bejahte und bedachte mich mit einem Blick, der die Fassungslosigkeit darüber zum Ausdruck brachte, dass ich diesen Mann ihrem Sohn vorzog. Schnell stand ich auf und strich mir die Bluse glatt. Dann ging ich festen Schrittes auf den Herren in Grau zu. Rob folgte mir wortlos.
„Reander?“, wandte ich mich an den Mann, dessen Alter fast unmöglich zu schätzen war. Er sah körperlich noch fit aus, sein Rücken war gerade, und nichts an ihm wirkte schwächlich, aber seine Züge verrieten die Würde des Alters. „Mein Name ist Joana, ich hatte einen Brief geschickt und nach den Legenden über Monster und ... so weiter gefragt. Ihr habt geantwortet und nun ja, hier bin ich.“ Der Alte musterte mich kurz und bot mir den Platz gegenüber an. Bevor ich mich setzte, stellte ich ihm Rob vor. „Und das ist Robert, er ... interessiert sich auch für dieses Thema.“
Reander wies auf einen weiteren freien Stuhl. „Ihr habt euch also auf den weiten Weg hierher begeben, nur um meinen Geschichten zu lauschen? Dann will ich mein Bestes tun, euch die Antworten zu liefern, die ihr sucht. Was wollt ihr hören?“
Das war eine gute Frage. Am liebsten hätte ich dem Impuls nachgegeben und „Alles“ gesagt. Aber damit wäre sicher niemandem geholfen. Während ich, plötzlich sprachlos, nach den richtigen Fragen suchte, musterte der alte Mann Robs und mein Gesicht. Sein Blick blieb an dem silbernen Amulett um Robs Hals hängen. Er stutzte, und etwas Neues trat in seine Augen. Der Moment ging jedoch so schnell vorbei, dass ich mir nicht sicher war.
Hier saß ich nun. Ich hatte eine Reise von mehreren Tagen auf mich genommen, hatte meine ganzen Ersparnisse ausgegeben und war einem riesigen Monster begegnet und dann gingen mir zum ersten Mal im Leben die Fragen aus. Keine einzige hatte ich gestellt. Und dann machte Rob den Mund auf und stellte die wohl einfachste Frage der Welt, durch deren wahrheitsgemäße Beantwortung sich alles Weitere ergeben würde.
„Sind die Legenden wahr?“
Reander musterte ihn lange. Endlich sagte er: „Die Dinge liegen anders, als ich erwartet habe. Könntet ihr mich morgen früh bei mir zu Hause treffen?“
Überrascht nickte ich und sah Rob im Augenwinkel dasselbe tun. Der alte Mann gab uns mit gedämpfter Stimme eine Wegbeschreibung, deutete dann eine Verbeugung an und verschwand.
Verdutzt schaute ich ihm nach. Diese ganze Sache entwickelte sich langsam zu einer ausgewachsenen Gruselgeschichte. Wie es aussah, würden die Antworten, die wir hier bekommen sollten, viel eher Fakten als Legenden sein. Oder wie war Reanders seltsames Verhalten zu deuten? Während ich nachdachte, wanderte mein Blick zu Rob. Auch er schien seinen Gedanken nachzuhängen. Sein Gesicht war gleichzeitig leidgeprägt und jungenhaft. Wie ein Kind im Krieg. Was es wohl geprägt hatte? Meine Augen glitten weiter und blieben an dem silbernen Amulett hängen, das Reander gerade so auffallend gemustert hatte. Zum ersten Mal betrachtete ich das Schmuckstück genauer. Ineinander vielfach verschlungene Linien bildeten einen in etwa ovalen Rahmen. Sie umrahmten die Abbildungen eines langen Schwertes und eines altmodischen verschnörkelten Schlüssels. Robs Magen knurrte und riss mich aus meinen Gedanken.
„Also, was hältst du davon, wenn ich meinen Retter zu ein paar belegten Broten einlade?“
In Robs Gesicht zuckte es. Irgendwie schien er den Begriff „Retter“ nicht zu mögen. Ich glaubte schon, er würde ablehnen, aber ein zweites lautes Magenknurren später nickte er schließlich.
Unser Abendessen bestellte ich bei der Wirtin, deren schadenfroher Blick nun so etwas wie: „Geschieht dir recht, dass er dir davongelaufen ist!“, sagte.
Kurze Zeit später kauten wir auf den lieblos belegten Broten. Rob schlang das Essen regelrecht in sich hinein. Hatte er heute überhaupt schon etwas gegessen? Jedenfalls nicht seit er bei mir war. Dieser Gedanke brachte mich wieder zu der Überlegung zurück, was er wohl heute den ganzen Nachmittag getan und was genau er eigentlich mit diesen Monstern zu schaffen hatte. Hastig schluckte ich den letzten Bissen hinunter. „Willst du mir vielleicht jetzt endlich mal verraten, was du mit dieser ganzen Monstergeschichte zu tun hast und wer dir von Reander erzählt hat und ...“ Als unsere Blicke sich trafen, brach ich ab.
Wieder einmal seufzte mein Gegenüber und legte sein Brot aus der Hand. „Die Fragen gehen dir nie aus, oder? Willst du mir nicht vielleicht jetzt endlich mal verraten, wie es heißt, dieses winzige Dorf am Rand der Welt, aus dem du kommst?“
Ich verdrehte die Augen. „Winkaln, ok? Ich komme aus Winkaln. Und ja, Fuchs und Hase sagen sich dort so laut gute Nacht, dass man es vom ersten bis zum letzten Holzhaus hört und unser einziger Gesetzeshüter, der übrigens im Nachbardorf lebt, sie am liebsten wegen Störung der öffentlichen Ruhe und Idylle in unsere winzige Gefängniszelle sperren würde!“ Beim Sprechen hatte ich vergessen zu atmen und holte dies jetzt geräuschvoll nach.
Fast huschte so etwas wie ein Lächeln über Robs Züge. „Und du schreibst Bücher?“, forschte er weiter.
„Ja! Na ja, genau genommen habe ich noch keines fertiggestellt.“ Das gab ich nicht gerne zu, und der durchdringende Blick dieser fast schwarzen Augen machte mich nervös. Wie war es denn jetzt dazu gekommen, dass ich mein Leben vor diesem Fremden ausbreitete, von ihm aber wieder keine Antworten bekam? Mein Gesichtsausdruck änderte sich in bockige Sturheit.
Die Wirtin kam und räumte griesgrämig, und nicht ohne mir einen verächtlichen Blick zuzuwerfen, den leeren Teller weg.
„Was hast du ihr getan?“, fragte Rob mit einer Kopfbewegung in Richtung der kleinen Frau und schob sich den letzten Bissen des Brotes in den Mund.
„Ich wollte Günther nicht heiraten!“, gestand ich, verdrehte die Augen und zuckte gleichzeitig mit den Schultern.
„Günther?“
„Ihren Sohn.“ Genervt wies ich in Richtung des gelangweilten Mannes, der nun gegen den Tresen lehnte und sich am Unterschenkel kratzte, der nur zur Hälfte von seiner löchrigen Hose bedeckt wurde.
„Warum?“, fragte Rob mit todernstem Gesicht. Dann breitete sich doch noch ein kleines Lächeln darauf aus.
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