Schließlich ließ die Kreatur von ihrem Opfer ab und wandte sich mir zu. Sie ging aufrecht auf zwei Beinen. Bewegungsunfähig rang ich noch immer um mein Bewusstsein, doch während ich dalag und das Wesen langsam auf mich zukam, merkte ich, dass ich diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Die Panik in mir war stark, aber nicht stark genug, um gegen den heftigen Schlag, der meinen Schädel erschüttert hatte, anzukommen. Langsam und gegen meinen Willen schlossen sich meine Augen. Das Letzte, was ich sah, war der Umriss des Monsters, das schon viel zu dicht vor mir stand.
Ich erwachte mit schrecklichen Kopfschmerzen, aber ich erwachte. Automatisch zuckte meine Hand zu der schmerzenden Stelle am Hinterkopf. Dort fühlte ich warmes Blut unter den Fingern und versuchte die Augen zu öffnen.
Nur allmählich konnte ich meine Umgebung wieder klarer erkennen. Ich lag noch immer auf der kleinen Lichtung. Wie viel Zeit war vergangen? Das Feuer brannte noch, und drumherum war es Nacht, also vermutlich nicht allzu viel. Andererseits hatte sich die Szenerie verändert. Als wäre ich Zuschauer einer Theateraufführung. Der Vorhang war vor die Bühne gezogen worden und als er sich wieder öffnete, hatte man die Kulissen verändert und die Schauspieler ausgetauscht. In dieser Szene des Stücks fehlten das geflügelte Monster und auch das Opfer. Man hatte mich näher ans Feuer gebracht und eine Decke unter meinen Kopf gelegt – vielleicht war ich eher Requisist als Zuschauer –, und ein neuer Spieler hatte die Bühne betreten.
Neben mir saß ein Mann am Feuer. Er blickte starr in die Flammen. Als ich ihn entdeckte, setzte ich mich ruckartig auf. Das hatte zur Folge, dass mir schlecht und schwindelig und er auf mich aufmerksam wurde.
„Na, da wären wir ja wieder“, sagte er mit einem Augenzwinkern. Seine Gestalt, leicht angewinkelte Knie und darauf abgestützte Arme, hob sich von der Dunkelheit hinter ihm kaum ab. Außer seinem Gesicht, seinen Händen und Unterarmen, die im Kontrast umso heller wirkten, war beinahe alles an ihm schwarz. Hose, Schuhe, das bis zu den Ellbogen hochgewickelte Hemd, seine Haare und auch seine Augen, zumindest beinahe. Eine auffällig große Silberschnalle an seinem Gürtel und ein silbernes Amulett um seinen Hals bildeten die einzige Abwechslung.
Sein Hals ... Die schmale Narbe konnte von seinen chaotisch durcheinanderfallenden und abstehenden Haaren nicht verdeckt werden. Sie begann hinter seinem linken Ohr und lief am Hals hinunter, bis sie vorn unter seinem Hemd verschwand. Ich schätzte, dass er ein paar Jahre älter war als ich, also Mitte bis Ende Zwanzig, auch wenn seine dunklen Augen älter wirkten. Diese sahen mich durchdringend an.
„Alles in Ordnung?“, fragte er ernst. Vorsichtig testete ich meine Knochen und Muskeln, einen nach dem anderen, und kam zu dem Ergebnis: „Ja, schätze schon. Was ist passiert? Wo ist denn dieses geflügelte Monster? Und der Mann? Hast du mich gerettet?“
Noch für eine Sekunde hing sein Blick an mir. Dann richtete er ihn wieder in die Flammen und entgegnete leise: „Ja, schätze schon.“
Über den Kopfschmerz hinweg versuchte ich mich zu konzentrieren. Hatte ich nicht gerade mehrere Fragen gestellt? Ich fügte noch eine weitere hinzu, diesmal leise und eher an mich gerichtet. „Was war das nur für ein Wesen?“ Fröstelnd rutschte ich näher ans Feuer heran und umschlang die Beine mit den Armen. Mein Gehirn zweifelte an meinen Augen und ich an meinem Verstand. „So etwas gibt es doch garnicht!“ Nur in Geschichten und Legenden. Unmöglich! Stärker zitternd schaute ich den Mann neben mir an und wiederholte eine meiner Fragen: „Wo ist der Mann? Mit dem Hut und dem Mantel. Ist er ... tot?“ Die richtige Antwort war offensichtlich, doch die Abwesenheit einer Leiche ließ für einen kurzen Moment die unbegründete Hoffnung zu, dass er den Angriff irgendwie überlebt hatte.
„Ja!“ Es war die tonlose Antwort auf meine Frage, nicht auf meine Hoffnung. Ich atmete tief durch, während der Schwarzhaarige seine Augen kurz vom Feuer zu mir schweifen ließ und wieder zurück. „Ich habe ihn begraben.“ Mit einer knappen Kopfbewegung wies er zwischen die Bäume. Das Grab musste in der Dunkelheit außerhalb des Feuerscheins liegen.
Ich begann leicht vor- und zurückzuwippen. Mein wortkarger Retter griff neben sich und hielt mir eine Decke hin, die ich mir schnell um die Schultern schlang. „Danke!“, sagte ich leise. „Und ich meine nicht nur wegen der Decke.“ Er sah mir kurz in die Augen und nickte dann nur. „Ich bin Joana!“, stellte ich mich vor und fügte hinzu: „Darf ich denn auch den Namen meines Retters erfahren?“ Ich hatte das Gefühl, dass er bei diesen Worten leicht zusammenzuckte. Der Blick seiner fast schwarzen Augen richtete sich wieder auf mich.
„Mein Name ist Robert, Rob für die meisten.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Und, willst du mir jetzt vielleicht verraten, was eine Frau ganz alleine hier draußen tut, Joana?“
Diese Frage wurde mir heute Nacht nicht zum ersten Mal gestellt, und sie brachte die Unterhaltung mit dem Fremden und sein schreckliches Schicksal zurück. Mit geschlossenen Augen versuchte ich die blutigen Bilder fernzuhalten. Für einen Augenblick lauschte ich in die Nacht und wartete. Als nichts geschah, beantwortete ich die Frage ein zweites Mal. „Ich bin auf dem Weg nach Mankindra, um dort jemanden zu treffen. Ich … ich stelle Nachforschungen für mein Buch an.“
Nachforschungen für mein Buch ... Bücher schreiben. Das war schon immer mein Wunsch gewesen. Ich hatte es versucht. Die Überreste des angefangenen Manuskripts zu „Bau und Bewirtschaftung der Winkalner Mühle“ lagen zu Asche verbrannt zu Hause in Winkaln im Ofen. Zu diesem Thema hatte ich einfach nichts mehr zu sagen. Dann war Reanders Name gefallen, und ich hatte mich erinnert, wofür er bis in unser kleines Dorf bekannt war. Für seine Geschichten. Märchen über Monster. Spannend und mitreißend. Und in diesem Moment waren die Geschichten aus meiner Kindheit zu mir zurückgekommen, und ich hatte gewusst, dass es das war, worüber ich schreiben wollte. Worüber ich schreiben musste.
Also schrieb ich einen Brief an diesen Reander und bat ihn, mir alles über Monster, Zähne und Krallen, Opfer, Schicksale, Schrecken und Rettung zu erzählen, denn das war der Stoff für mein Buch. Und Reander hatte geantwortet. Unzählige Male waren meine Augen über das Papier geglitten und hatten Buchstaben zu Worten geformt, Worte zu Sätzen, die schließlich den Grund für meine Reise nach Mankindra ergaben:
Gute Miss Joana,
Legenden wie diese, nach denen Ihr sucht, gibt es bei uns zahlreiche und nicht nur ich kann Euch darüber berichten. Dies alles kann in einem Brief jedoch bestimmt nicht erschöpfend erzählt werden. Ich kann Euch nur anbieten, Euch mit mir in unserem Gasthaus „Zum Wildhund“ zu treffen. Ihr findet mich dort beinahe jeden Abend. Der Wein ist gut, und ich werde Euch dann gerne alle Fragen nach bestem Wissen beantworten. Mankindra ist immer eine Reise wert.
Ergebenst Euer Reander!
Und so war ich aufgebrochen, hatte mein kleines Zimmer und meine Familie zurückgelassen, um mir Reanders Geschichten anzuhören. Im Geiste sah ich noch das Gesicht meiner Mutter Sonja vor mir, als ich ihr von diesem Plan erzählte. Und doch hatte sie dieses eine Mal nichts gesagt, musste gespürt haben, wie wichtig mir diese Reise war. Trotzdem klang mir ihre Stimme von früheren Streitgesprächen noch im Ohr: „Bücher schreiben!“ Nur sie konnte diese beiden Worte so abfällig betonen. „Bücher sind nur etwas für privilegierte Nichtstuer, die ihre Felder von schlecht bezahlten, hart arbeitenden Menschen bestellen lassen, die sich von ihrem bisschen Lohn kaum das Nötigste leisten können.“
Ganz so drastisch war es natürlich schon lange nicht mehr, aber meine Mutter war schon immer schlecht auf die Oberschicht zu sprechen gewesen. Den Grund dafür konnte ich mir nicht erklären, zumal wir weder am Hungertuch nagten noch irgendetwas mit eben jener Schicht zu schaffen hatten.
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