Er ging weiter, und ich beeilte mich, ihm zu folgen. „Dann werden wir ihn also zusammen aufsuchen?“, fragte ich.
Er seufzte. „Ja, so sieht es aus.“
Während ich noch darüber nachdachte, ob es jetzt wohl an der Zeit war, beleidigt zu sein, denn ganz offensichtlich wollte er mich ja nicht länger als nötig um sich haben, kam vor uns Mankindra in Sicht. Der Anblick der gewaltigen Stadtmauern ließ mich jeden anderen Gedanken vergessen. Nie zuvor hatte ich eine Stadt von derartigen Ausmaßen gesehen.
Als Rob meine weit aufgerissenen Augen bemerkte, schüttelte er ungläubig den Kopf. „Aus welchem Dorf am Rand der Welt kommst du denn?“
Beleidigt rümpfte ich die Nase und beschleunigte meine Schritte, was wieder nur mit einem Kopfschütteln quittiert wurde. Sollte er mich doch für einen Hinterwäldler halten. So oder so, Mankindra war groß. Und es gab eine Stadtmauer. Graue Steinquader, die mit Ausnahme einiger weniger Höfe alles umschlossen, komplettiert durch ein Zugtor aus schwarzem Eisen. Dieses stand offen. Zwei ausgeruhte Wachen flankierten die Öffnung, ließen uns aber ohne Probleme passieren.
Es war nun bereits Mittag und die breiten, zum Teil gepflasterten Straßen voller Menschen. Graue Steinhäuser gerahmt mit Balken aus dunklem Holz und verzierten Giebeln zu beiden Seiten. Kleine Sprossenfenster in zweistöckigen Fassaden blickten auf Kutschen, Fuhrwerke und Menschen hinab. Die hölzernen Räder klapperten über die Steine. In Nähe des Stadttores stand eine kleine Gruppe Frauen in robusten Kleidern und tauschte aufgeregt die Neuigkeiten des Tages aus. In ihrer Nähe blieb Rob stehen. „So, wie finden wir denn jetzt diesen Reander?“
„Ach, sieh an! Du weißt doch bisher auch alles besser, da durfte das für dich ja kein Problem darstellen!“, entgegnete ich schnippisch. Er ließ mich einfach stehen und ging weiter. Irgendwie kam ich gegen diesen Mann nicht an, also schloss ich zu ihm auf. „Schon gut, schon gut! Reander schrieb, ich kann ihn abends im Gasthaus „Zum Wildhund“ antreffen. Guter Wein“, fügte ich noch hinzu.
„Gut, dann treffen wir uns heute Abend im Wilden Hund.“ Sprach’s und verschwand. Mit offenem Mund und völlig perplex stand ich mitten auf der Straße und rang um Fassung. Er hatte mich einfach hier stehen gelassen!
Angestrengt schluckte ich meinen Ärger hinunter und fragte mich zum „Wildhund“ durch. Das Gasthaus lag nahe des Stadtzentrums. Es war Markt, und Massen von Menschen schoben sich über den großen zentralen Platz. Begeistert mischte ich mich in das bunte Treiben, schaute mir die Stände an und ließ mich schließlich dazu hinreißen, eine einheimische Spezialität, genannt Haphap, zu probieren. Aus was der vielschichtige in mehreren verschiedenen Lagen gefüllte Pfannkuchen nun genau bestand, konnte oder wollte mir niemand verraten. Aber er schmeckte unbestreitbar einfach großartig.
Als ich später den „Wildhund“ betrat, schlug mir eine angenehme gemütliche Atmosphäre entgegen. Das Gasthaus wirkte sehr ländlich und eher so, als träfe man sich hier nach der Feldarbeit auf ein Bier. Einzig der Schankraum war deutlich größer, als man es bei einer dieser Dorfschenken erwartet hätte. Die Einrichtung bestand aus dunklem Holz. Ein Teppich in warmen Farben schmückte eine der Steinwände. Ich sprach die Wirtin an, eine kleine flinke Frau mit Schürze, die mich gleich auf eines der Zimmer geleitete und mir noch dazu sehr hilfsbereit den Badezuber anheizte. Nachdem ich einen Blick an mir herunter geworfen hatte, wurde mir auch sogleich klar, warum. Ich sah furchtbar aus. Tagelang nur Regen und Schlamm kombiniert mit einer beigen Wanderhose und einer robusten weißen Leinenbluse. Kurz gesagt, ich hatte ein Bad dringend nötig.
Dankbar nutzte ich die Gelegenheit, mich und meine Habe zu reinigen, und hatte dann noch etwas Zeit, alles notdürftig zu trocknen, bevor ich in den Schankraum des „Wildhundes“ zurückkehrte. Dieser war nun bereits gut gefüllt, und mir wurde schlagartig klar, dass ich keine Ahnung hatte, wie dieser Reander aussah oder ob er überhaut heute Abend hier sein würde.
Rob war noch immer spurlos verschwunden, also beschloss ich, mich an den Tresen zu setzen, um mit der Wirtin ins Gespräch zu kommen. Lächelnd und offenbar mit meiner gereinigten Erscheinung äußerst zufrieden, positionierte sie den bestellten Rotwein vor mir. Ich nutzte die Gelegenheit. „Entschuldigt, aber ich bin auf der Suche nach einem Mann“, setzte ich an.
Enthusiastisch winkte mich die kleine Frau näher zu sich heran und wies lächelnd auf einen Mann neben der Eingangstür, den sie mir als ihren Sohn Günther vorstellte. Irritiert starrte ich Günther an, der mit verschränkten Armen und finsterer Mine an der Wand lehnte. Während mein Blick über die Zahnlücken, den Dreitagebart und die Kleidung glitt, mit der er vermutlich vor fünfunddreißig Jahren auf die Welt gekommen war, wenn man die Anzahl der Löcher und den Grad der Verschmutzung bedachte, erkannte ich das Missverständnis.
„Nein, nein!“, erklärte ich vielleicht etwas zu hastig. „Ich suche jemanden namens Reander. Er soll oft herkommen.“
Die Wirtin rieb ihre Hände an der Schürze ab, warf noch einen enttäuschten Blick zwischen Günther und mir hin und her und erklärte dann kurz angebunden, dass Reander heute noch nicht da sei. „Sitzt oft da hinten“, fügte sie hinzu und wedelte lustlos mit ihrer Hand in eine Richtung, die gut und gerne fünf bis sechs Tische einschloss. Trotzdem bedankte ich mich, drehte Günther unauffällig den Rücken zu und nippte an meinem Wein. Er war tatsächlich gut, schmeckte schwer und süß.
Die Minuten verstrichen. Ich beobachtete die Gäste, die hereinkamen, und brachte sogar den Mut auf, die finster dreinblickende Wirtin ab und an zu fragen, ob sich Reander vielleicht schon unter den Eingetroffenen befand, was diese konstant und kurz angebunden verneinte.
Ein Glas Wein später war ich bereits davon überzeugt, dass weder der Gesuchte noch mein eigenartiger Begleiter je wieder hier auftauchen würden. Das mag etwas übertrieben klingen, aber besonders geduldig war ich in solchen Dingen noch nie.
Resigniert stützte ich den Ellbogen auf den Holztresen, legte den Kopf in meine Hand und lauschte seufzend den Gesprächen, die um mich herum geführt wurden. Da war vom Markt die Rede, von Mankindras Writschaft, von schönen Frauen, dem Wein und natürlich wurde, wie überall, viel über den König gesprochen.
„König Herolds Zustand ist kritisch“, sagte einer.
„Das ist er doch schon seit Jahren“, erwiderte ein anderer. Im ganzen Reich wurde darüber spekuliert, an welcher Krankheit der Herrscher Olasias litt und wer um alles in der Welt die Thronfolge antreten sollte, falls, Gott bewahre, der König seiner Krankheit erlag. Einen Thronerben gab es nicht, und so war unter den hohen Adelsfamilien des Reiches eine Art Wettlauf um den Thron ausgebrochen. Ein handlungsunfähiger Herrscher und wetteifernder Adel - das konnte jedes Reich zugrunde richten. Dementsprechend groß war die Angst in der Bevölkerung. Die ersten Anzeichen des Chaos wurden schon sichtbar.
„Und, ist der Wein wirklich so gut, wie man behauptet?“, erklang eine Stimme hinter mir.
Ich drehte mich herum und platze heraus: „Na, dass du dich tatsächlich auch noch hier blicken lässt. Was hast du denn bloß so lange gemacht?“
„Ich bin bei der Stadtwache gewesen, habe ihnen die Papiere deines toten Freundes übergeben und erklärt, dass er von einem Tier getötet wurde“, entgegnete Rob.
„Einem Tier?“, formte ich tonlos mit den Lippen. Die Fratze des Geflügelten erschien in meinem Geist und fletschte die Zähne. Als wäre sie mir hierher gefolgt. Unsymmetrisch, unnatürlich kantig, gänzlich schwarz und grauenerweckend. Das war kein Tier gewesen!
Als hätte er meine Gedanken gelesen, fügte Rob hinzu: „Das passiert hier oft. Sie stellen keine Fragen. Und die Familie erfährt auf diese Weise, wo er geblieben ist.“
Читать дальше