Der Arzt hatte eben noch den Sohn des Scheichs auf die Schwere der Verwundung seines Vaters hingewiesen. Es war unübersehbar, dass das mehr schlecht als recht um die Eintrittswunde am Oberschenkel gewickelte T-Shirt so gut wie nichts bewirkte. Der Stoff von Rayans Hose war bereits komplett durchtränkt. Wenn nicht auf der Stelle jemand etwas tat, konnte er für nichts mehr garantieren.
Wie in Trance nahm der Mediziner die nachfolgenden Ereignisse war: Den vergeblichen Versuch des jungen Kriegers Aleser, den Angreifer mit seiner Armbrust zu erledigen. Die erneuten Schüsse aus derselben unheilvollen Waffe, die den Tarmanen daraufhin in die Brust trafen. Dann das Dröhnen vieler Waffen auf einmal, die diesen Skorpion förmlich durchsiebten. Scott bliebe keine Zeit, weiter über die grausige Szene nachzudenken, denn in diesem Moment hörte er den Befehl: „Stopp. Feuer einstellen! Das reicht. Er ist tot!“
Er wartete nicht ab, ob alle den Worten Folge leisteten, stattdessen konzentrierte er sich nur auf sein Ziel: das Stoppen der Blutung. Hier ging es nun wirklich um Sekunden!
Scott sprang nach vorne, und zu seinem Glück verstummten da auch schon die Waffen der Tarmanen, sodass er nicht mehr Gefahr lief, vom eigenen Feuer erwischt zu werden.
In Sekundenbruchteilen hatte er die Lage der Einschusswunde analysiert und war erleichtert, dass sie sich nicht unmittelbar im Bereich des Gelenks befand, was die Kompression erschwert hätte, sondern relativ in der Mitte des Oberschenkels war, sodass die Emergency Bandage gut angelegt werden konnte. Wie er befürchtet hatte, war die Arteria femoralis, die Oberschenkelarterie, direkt getroffen worden. Da er auf der hinteren Seite des Beines eine Austrittswunde ertasten konnte, hatte das Geschoss vermutlich einen Teil des Gefäßes mit herausgerissen. Er würde also eine künstliche Verbindung schaffen müssen.
Mit geschickten Handgriffen legte er die Notfallbandage an und aktivierte die Wundpresse. Kaum war das Bein somit erstversorgt, legte er eine Infusion in die Armbeuge des Scheichs. Sein Helfer hielt den Beutel mit Infusionslösung, die das Risiko eines möglichen hämorrhagischen Schocks aufgrund des durch den schweren Blutverlust verminderten Blutflusses zumindest reduzieren sollte.
Schon jetzt außer Atem gab er Zeichen, den Reglosen auf die Trage zu heben. Dann eilte der gesamte Tross - so zügig das möglich war - in Richtung des Krankenhauses.
1936 - Zarifa: Großes Tal - Nicht ohne Folgen
Das Mondlicht schien fahl durch die Luke in den Raum. Die junge Frau drehte sich vor dem Spiegel hin und her und betrachtete sich aus verschiedenen Blickrichtungen. Sie konnte mit ihrem Äußeren sehr zufrieden sein, denn mehr als ein Mann hatte sie bereits als „wunderschön“ bezeichnet und ihr den Hof gemacht. Die Tarmanin hatte rehbraune, sanfte Augen mit langen Wimpern und einen Mund mit vollen Lippen. Sie selbst kritisierte immer, dass ihr rechter Mundwinkel ein wenig höher gezogen zu sein schien, als der andere, doch diese leichte Asymmetrie intensivierte nur die Attraktivität. Wie es sich geziemte, hatte sie ihre seidigen, nachtschwarzen Haare in der Öffentlichkeit stets unter einem weiten Tuch verborgen, sodass nur wenige bisher in den Genuss gekommen waren, die bis zum Poansatz reichende Pracht zu bewundern. Aber natürlich liebten es die anderen Mädchen, zu tratschen und ihre Brüder mit Beschreibungen zu necken. Daher hatte schon so mancher junger Tarmane davon geträumt, sich das Recht zu sichern, nicht nur den Wahrheitsgehalt der Erzählungen über die Haarpracht, sondern am besten gleich auch noch Rabias Körper zu erkunden. Doch hatte die Tarmanin bisher jeden einzelnen Verehrer abgewiesen. Ihr Herz war vergeben. Sie hatte es schon vor zwei Jahren einem Mann geschenkt, der ihr bisher immer unerreichbar erschienen war. Bis vor einigen Monaten das Unvorstellbare geschehen war!
Und nun stand sie vor dem Spiegel und betrachtete sich ängstlich. Oder vielmehr ihren Körper. Sie tat es keineswegs aus Eitelkeit, sondern um festzustellen, wie lange es ihr wohl noch möglich wäre, ihren „Zustand“ zu verheimlichen. Denn sie war schwanger. Und das, ohne verheiratet zu sein. Eine absolute Unmöglichkeit im Jahr 1936.
Wie hatte sie nur so dumm sein können? Aber die wenigen wundervollen Stunden mit dem Mann ihrer Träume hatten jeden Sinn für Verantwortung in ihr ausgelöscht. Vor allem da er sich als genau der Typ von Liebhaber herausgestellt hatte, den sie immer in ihm vermutet hatte: zärtlich, aber nicht zögerlich. Fürsorglich, aber fordernd. Leidenschaftlich hatte er den Takt vorgegeben und ihr nicht einmal den Hauch einer Chance gelassen. Der geborene Verführer. Ein Mann, der gewohnt war, zu bekommen, was er wollte.
Ein Herrscher - ihr Herrscher, Amir, der Scheich der Tarmanen.
Und morgen früh hatte sie nun endlich eine Audienz erhalten, in der sie ihm beichten musste, dass ihre eine Nacht voller Leidenschaft nicht ohne Folgen geblieben war …
02. Dezember 2015 - Zarifa: Krankenhaus - Die Not-OP
Doktor Scott war erleichtert, als sie den Scheich ohne weitere Verzögerungen auf dem OP-Tisch gelegt hatten. Denn wäre bei dem Transport mit der Trage etwas schief gegangen, es hätte das Ende des Anführers der Tarmanen bedeutet. Nicht auszudenken, wenn einer der Träger gestürzt wäre! Auch die Vorbereitung des OP-Saals durch seine Frau war schnell und effizient erfolgt. Er hatte sie geistesgegenwärtig angerufen, sobald er sich von dem Schreck des kaltblütigen Schusses auf ihren Herrn erholt hatte, noch bevor der unbekannte Angreifer erledigt worden war.
Wer hätte gedacht, dass sich das Notfallprotokoll auf das Rayan in Krisenfällen bestand, einmal für ihn selber bezahlt machen würde? Denn vor wenigen Tagen, als Hanif aufgetaucht war und von den Eindringlingen berichtet hatte, waren nicht nur überall Wachen aufgestellt worden, sondern es war auch das Krankenhaus von seinem sonst fast ein wenig verschlafenen Zustand einer friedlichen Kleinstadt in den Alarmzustand versetzt worden.
Somit konnte Frau Scott innerhalb weniger Minuten die letzten Vorbereitungen vor dem Eintreffen eines Schwerstverletzten im OP durchführen.
Da sie gewusst hatte, dass es sich um seine Exzellenz persönlich handelte, hatte sie auch schon die Blutkonserven vorbereitet, die man aus seinem Eigenblut gewonnen hatte, welches der Scheich regelmäßig für den Ernstfall abgegeben hatte. Wie es schien, hielten einige der älteren Stammesbrüder an gewissen in Scotts Augen total veralteten Ansichten fest, dass „das Blut von Zarifa“, das Blut der Herrscher, nicht mit irgendwelchen Konserven verschmutzt werden dürfe. Nach längeren Diskussionen hatte man sich also auf diese Lösung für den Notfall geeinigt.
Nun galt es, auf beiden Seiten der Wunde Klemmen anzubringen, die den Blutverlauf komplett stoppen würden. Nur so war es möglich, im zweiten Schritt ein Kunststoffstück an die zerrissene Arterie anzubringen, das die beiden auseinandergefetzten Enden wieder verbinden würde. Die entsprechenden Materialien lagen griffbereit und steril neben ihm.
Jetzt war der Mediziner hoch konzentriert. Er prüfte nochmals, ob auch alle Instrumente bereitlagen, dann tauschte er einen Blick mit seiner Frau, die ihm während der Operation assistieren würde. Sie lächelte aufmunternd, doch auch ihr war die Nervosität anzusehen. Eine junge Tarmanin, die bereits seit zwei Jahren von ihm ausgebildet wurde, würde die Monitore überwachen, um Atmung und den Puls zu kontrollierten. Auch sie nickte zum Zeichen, dass aus ihrer Sicht alles in Ordnung war. Im Moment war der Patient stabil, was ein gutes Zeichen war. Der Scheich nahm täglich am Kampftraining der Männer teil, sodass seine physische Konstitution ausgezeichnet war. Doch der Blutdruck war aufgrund des schweren Blutverlusts sehr niedrig, zu niedrig für seinen Geschmack. Er hatte also keine Zeit zu verlieren. Trotzdem durfte er nun nicht hektisch werden. Alles, was er tun konnte, war ruhig zu bleiben und effizient vorzugehen. Die Wunde war noch immer durch die Emergency Bandage verschlossen, der Rest des Beins und der Unterkörper des Verletzten waren mit dunkelblauen Operationstüchern abgedeckt worden. Wenn er den Druckverband löste, würden sie schnell sein müssen. Er nahm noch einen tiefen Atemzug, dann setzte er entschlossen die Schere an.
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