„Trau‘ dich ja nicht!“, schnauzte sie nun lauter. „Wehe du lässt uns hier zurück in dieser miserablen Lage und berufst dich auf einen Heldentot und tröstest dich mit anderen Weibern!“
Obwohl sie inzwischen mit Hanif liiert war, den sie aufrichtig liebte, reizte die Vorstellung, Rayan würde sich tatsächlich mit Jungfrauen im Jenseits ein schönes Leben machen, ihre Eifersucht. Sie war eine clevere Geschäftsfrau, die fest mit beiden Beinen im Leben stand. Aus diesem Grund war ihr natürlich klar, dass dies eine höchst theoretische und vor allem philosophische Frage war. Und dass es völlig irrational war, deshalb wütend zu sein. Doch war es ein Kanal für ihre inneren Ängste. Lieber saß sie hier und schimpfte ihren reglosen Freund, als dass sie ihrer Schwäche nachgab und in Tränen ausbrach.
Und so steigerte sie sich immer mehr hinein in ihre Anschuldigungen.
„Du dummer Mensch! Jetzt siehst du einmal, was du von deinem Stolz hast!“, fluchte sie lauter werdend.
Jassim steckte seinen Kopf zur Tür herein, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, doch Leila bemerkte dies nicht einmal. Kopfschüttelnd zog sich Rayans Leibwächter wieder zurück. Jeder hatte eben so seine andere Art, mit seinem Schmerz umzugehen.
„Ich habe dir schon immer gesagt, dass du dich wegen der Narben auf deinem Rücken anstellst!“, sie spielte auf die Tatsache an, dass der Skorpion erst auf Rayan geschossen hatte, als dieser sich geweigert hatte, sein T-Shirt auszuziehen. Vermutlich wäre die Geschichte ganz anders ausgegangen, wenn der Scheich den Anweisungen des Feindes gefolgt wäre.
„Aber nein! DU stehst ja über den Dingen, was?“, nörgelte Leila weiter.
„Und jetzt stellst du dich nicht einmal den Konsequenzen. Elender Feigling!“, echauffierte sie sich weiter. „Mach gefälligst die Augen auf und sieh‘ mich an, wenn ich dich anschnauze!“, fuhr sie mit ihrer Schimpftirade fort. „Ich …“, in diesem Moment erstarrte sie. Hatte Rayan eben ihre Hand gedrückt? Aber nein - die Bewegung war viel zu schwach gewesen, als dass sie sicher sein konnte. Vermutlich hatte ihr Wunschgedanke ihr etwas vorgegaukelt.
Aber dann sah sie es: Rayans Lider flatterten und einige Sekunden später hatte er tatsächlich die Augen aufgeschlagen und sah sich verwirrt im Zimmer um. Dabei schien er sie gar nicht wahrzunehmen.
10./11. Januar 2016 - Zarifa: Ahmads Haus - Die inneren Dämonen
Ahmad war am Nachmittag nach seinem nervlichen Zusammenbruch vor Erschöpfung eingeschlafen, doch wie in den vergangenen Wochen schon, war es kein erholsamer Schlaf gewesen. Verwirrte Träume hatten ihn geplagt. Nur undeutlich hatte er mitbekommen, dass sein Vater nach Hause gekommen war. Der hatte kurz nach ihm gesehen und ihn dann schlafen lassen. Sicher hatte jemand ihn schon von seinem Besuch im Krankenhaus inklusive seines Zusammenbruchs dort berichtet.
In dieser traurigen Zeit war es nicht weiter überraschend, wenn sich jemand mit seiner Trauer über die Situation ihres Herrn zurückzog. Mitten in der Nacht glaubte Ahmad, zu erwachen. Er wollte aufstehen, um etwas zu trinken, als er seinen Herrn neben seinem Bett stehen sah. Der junge Mann konnte jedes noch so kleine Detail in dessen Gesicht erkennen: die intensiv leuchtenden Augen, die ihn vorwurfsvoll ansahen. „Du hast mich ermordet. Dafür wirst du bezahlen“, sagte der Scheich drohend. Mit einem lauten Schrei war Ahmad erwacht. Sein Herz schlug wie wild in seiner Brust. Fast wünschte er sich, dass ein Herzanfall ihn erlösen würde. Und zum ersten Mal dachte er darüber nach, dass sein eigener Tod eine Lösung sein könnte. Hätte er die mysteriöse Flüssigkeit noch gehabt, er hätte sie in diesem Moment sicher, ohne zu zögern selbst getrunken.
Er verbrachte die nächsten Minuten damit, zu überlegen, welche alternative Methode er wählen konnte, um seinem ehrlosen Leben ein Ende zu setzen. Ihm war dabei völlig klar, dass diese Vermeidung der harten Realität der Weg eines Feiglings war. Aber eben deswegen fand er, dass er nichts anderes verdient hatte. Denn schließlich war er doch genau das: ein ehrloser Feigling.
Ein Krieger hätte sich schon längst zu seinen Taten bekannt, sich gestellt. Die ganze furchtbare Wahrheit ans Licht gebracht. Aber er? Bemitleidete sich selber, aus Angst, was man ihm antun könnte. Dabei hatte er doch jede Strafe, die man ihm auferlegen würde, mehr als verdient! Die Tatsache, dass ein Bekenntnis auch seinem Vater schaden würde, der bereits seit Jahrzehnten die herrschaftlichen Gärten pflegte, war nur ein kleiner Trost.
Tief mit seinen Dämonen ringend blieb er einfach im Bett liegen. Wie lange würde es dauern - bis man nach ihm suchen würde?
Doch das Schicksal wollte es anders mit ihm. Denn gegen Mittag konnte er die Aufregung draußen vor seiner Haustür nicht mehr ignorieren. Es klang, als wäre die ganze Stadt gleichzeitig auf den Beinen. Alle seine Nachbarn standen auf der Straße.
Und dann kam sein Vater mit einem so strahlenden Lächeln auf dem Gesicht zur Tür hereingerannt, wie er ihn seit Langem nicht mehr gesehen hatte. Verwirrt ließ sich Ahmad wie ein kleines Kind an der Hand hinausziehen, wo ihm seine Freunde freudig um den Hals fielen.
„Er ist erwacht!“, jubelten die Menschen immer wieder. „Unser Herr ist erwacht!“
11. Januar 2016 - Zarifa: Krankenhaus - Sorgen um Carina, Sorgen um Rayan
„Wo bin ich?“, fragte Rayan schwach.
Perplex starrte Leila ihren Freund und Herrn an. Seinen sonst so klaren Blick derart verschleiert zu sehen, schürte ihre Ängste. Langsam ergriff sie das Kissen, das sie vorsorglich schon neben sich gelegt hatte. Würde sie es nun wirklich zum Einsatz bringen müssen? Sie musste sich räuspern, bevor sie ihre Stimme dazu brachte, normal zu funktionieren. In ihr tobten einfach zu viele Emotionen zur gleichen Zeit: Freude - dass Rayan in die Welt der Lebenden zurückgefunden hatte, aber auch diese panische Furcht, dass sie ihren Schwur, ihn nicht als geistig zurückgeblieben weiterleben zu lassen, würde einlösen müssen. Mit Erschrecken erkannte sie den Schwachpunkt ihres Plans: sie selbst würde eine Entscheidung treffen müssen. Doch ihr blieb nicht viel Zeit - sicher würden die Geräte im Kontrollraum dem Arzt und seinen Helfern mitteilen, dass der Patient bei Bewusstsein war? Wenn sie also ihre „Sterbehilfe“ unbemerkt durchführen wollte, musste sie schnell agieren. Ihr Herz raste, denn noch ein Fakt fiel ihr erst jetzt auf: Würden die Werte gespeichert werden? Die Finger, die das Kissen hielten, zitterten unkontrolliert. „Oh Allah gib mir Kraft!“, flehte sie.
Stammelnd beantwortete sie Rayans Frage: „Hier, zu Hause“, und ergänzte dann schnell „In Zarifa. Im Krankenhaus, um genau zu sein.“
Rayans Blick richtete sich auf sie und er versuchte ein Lächeln, was ihm nur teilweise gelang. „Das kann nicht sein“, flüsterte er kaum hörbar. „Ich muss immer noch träumen … denn du kommst nie hierher.“
Nun grinste Leila breit. Offenbar hatte er sie doch erkannt! Sie spürte Erleichterung, doch das Misstrauen blieb. Testhalber neckte sie: „Um meinen Herrn und Meister von den Toten zu erwecken, ist mir kein Weg zu weit. Da komme ich sogar in dein rückständiges Kaff!“
Es war ein üblicher Scherz zwischen den beiden gewesen, weil Leila sich in der Vergangenheit als bekennende Städterin stets geweigert hatte, nach Zarifa zu kommen. Ohne dass sie dies hätte begründen können, hatte sie das Gefühl gehabt, in diesem Teil von Rayans Welt nichts zu suchen zu haben. Und vermutlich hätte sie sich tatsächlich gelangweilt. Sie brauchte die Aktivität der Stadt und Alessia war ihr gerade noch groß genug. Mehrere Male pro Jahr unternahm sie Reisen in die Metropolen der Welt. Sie liebte Madrid, aber auch Rom hatte es ihr angetan. Da passte die Ruhe und Besinnlichkeit Zarifas nicht so recht ins Bild. Würde er nun auf ihren so typischen Schlagabtausch eingehen? Es wäre der Beweis, dass sein Geist keinen Schaden davongetragen hatte.
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