10. Januar 2016 - Zarifa: Krankenhaus - Alarmierende Geräusche
Jassim lauschte aufmerksam. Er hatte bereits vorher ein Schluchzen durch die Tür gehört und sein Herz hatte sich zusammengezogen, bei dem Gedanken, dass der Diener Ahmad, der sich bei ihrem Herrn befand, wohl von seinen Gefühlen übermannt worden war. In gewisser Weise beneidete Jassim den jungen Mann. Denn auch er verspürte den Drang, seiner Trauer und Angst um den kritischen Zustand seines Herrn Ausdruck zu verleihen. Aber ein Krieger weinte nicht!
Schon gar nicht, solange noch ein Funke an Hoffnung bestand. Noch war ihr Herr nicht tot. Sie hatten ihn schon einmal abgeschrieben, erst vor einigen Monaten, als er in der Wüste verschollen war und alle geglaubt hatten, er wäre bei dem Sturm umgekommen. Nun lag er in diesem Zimmer, schwer verletzt - aber keineswegs galt es, ihn bereits aufzugeben. Rayan war schließlich ein Kämpfer!
Einen Moment lang hatte Jassim erwogen, zu Ahmad hineinzugehen, als sich dessen Bitte um einen „kurzen Blick auf ihren Herrn“, in die Länge zog. Aber dann hatte er das Schluchzen gehört und dachte sich, dass es dem Tarmanen sicher unangenehm war, weinend von einem anderen gesehen zu werden. Also ließ er ihm Zeit. Solange Carina sich ausruhte, war es nicht einmal schlecht, wenn ein anderer im Zimmer war. Denn wer konnte schon sagen, ob ihr Herr in einem Zustand nicht doch die Anwesenheit eines Vertrauten spüren konnte?
Dann hörte er plötzlich ein dumpfes Geräusch und hielt alarmiert den Atem an. Was war passiert? War das im Inneren des Zimmers gewesen?
Er zögerte nur noch einige Sekunden, dann überwog seine Sorge und er streckte seine Hand nach der Klinke aus. Just in dem Moment, als er die Tür öffnete, drang das Knallen von umfallenden Geräten an sein Ohr. Alarmiert flog er förmlich in den Raum hinein. Und hielt dann plötzlich inne, um das ungewöhnliche Bild, das sich ihm bot, in sich aufzunehmen.
Was zum Henker hatte Ahmad nur angestellt?
Anfang Juni 2015 - Rub‘ al Khali: Auf dem Weg nach Farah - Ein Ort der Ruhe
Als Mulai nicht mehr war, konnte Anbar endlich wieder frei atmen. Danach kam Tahsin zu ihm und sagte: „Der tut dir nie mehr weh!“ Es klang schon fast so bedrohlich wie bei seinem Vater und Anbar musste lächeln. Er hätte zuvor nicht gedacht, dass er dessen noch fähig wäre. Sein erster kleiner Schritt zurück in ein normales Leben. Während des Ritts erkundigte sich der junge Prinz regelmäßig nach seinem Befinden und versuchte, einen Weg zu finden, mit ihm zu kommunizieren. Vorher im Lager war seine fehlende Zunge kein Thema gewesen, von ihm wurde ohnehin nur erwartet, dass er zuhörte und Befehle ausführte. Nun aber interessierten sich die Menschen um ihn herum ehrlich für sein Wohlergehen und seine Genesung und es war zunehmend schwierig, dass er keine Worte mehr formen konnte. Tahsin hielt das nicht davon ab, es immer weiter zu versuchen. Innerhalb kürzester Zeit verstanden sich die beiden ganz ausgezeichnet. Sie arbeiteten mit Gesten oder Tönen. Ihr Verhältnis „Freundschaft“ zu nennen, dazu wäre es zu früh gewesen. Aber Rayans Sohn war derjenige, der Anbar wohl am meisten half, sich wieder als freier Mann zurechtzufinden. Es gelang ihm, sich wieder einigermaßen sicher zu fühlen und er sah der Trennung von dem Trupp an Kriegern mit gemischten Gefühlen entgegen.
Als sie in der Oase von Farah angekommen waren, überraschte Rayan den Kaufmann erneut, indem er ihm genügend finanzielle Mittel anbot, um mit Leichtigkeit einen ganz neuen Start zu wagen.
Doch der Gedanke, ganz auf sich allein gestellt zu sein, ängstigte Anbar. Was, wenn er erneut Bösewichten in die Hände fiel? Oder, wenn er es nicht mehr drauf hatte, seine eigenen Geschäfte zu ordnen? Wie peinlich wäre es, das Geld seines Gönners zu verschwenden.
Und je länger er seine Gefühle erforschte, desto mehr wurde ihm klar, dass er auch gar keine Energie mehr aufbringen WOLLTE! Er erinnerte sich an die vielen nächtlichen Stunden, die er investiert hatte, um nach einem langen Tag abends noch seine Bücher aufs Laufende zu bringen. Es war ihm so wichtig erschienen, dass alles genau dokumentiert war und er sicher sein konnte, dass sein Reichtum beständig wuchs. Wofür? Die Antwort lag auf der Hand: Er hatte eine Familie gründen wollen. Doch dazu war es nicht mehr gekommen. Stattdessen hatte er schmerzlich erfahren müssen, wie vergänglich seine Errungenschaften waren.
Alles, was er wollte, war einen friedlichen Ort zu finden, an dem man ihn in Ruhe ließ. Wo konnte er sich niederlassen, ohne fürchten zu müssen, von Feinden aufgespürt zu werden?
Schon die Idee, alleine zu sein, bereitete ihm Unbehagen. Was aber war, wenn Fürst Miskah Khalid eines Tages doch ausziehen würde, um sich ihn - sein Eigentum - zurückzuholen? Der Gedanke brachte ihn an den Rand des Wahnsinns. Und dann hörte er einen Namen, der ihm verheißungsvoll erschien: Zarifa. Die Art, wie die Männer um ihn herum auf dem Ritt nach Farah über ihre Heimat sprachen, ließen vor seinem geistigen Auge eine Oase der Ruhe entstehen. Genau das, was er sich erhoffte! Dort hätte er Sicherheit, wäre nicht alleine, sondern von freundlich Gesinnten umgeben und man würde sich um ihn kümmern.
Als er Rayan darum bat, dass man ihn dorthin mitnahm, hatte er eine sofortige Ablehnung befürchtet. Doch stattdessen hatte der Scheich wissend gelächelt. Wie es schien, hatte er mit genau dieser Frage bereits gerechnet. Und anstatt ihn abzuweisen, hatte er ihn auf die Tatsache hingewiesen, dass es einem Fremden nicht gestattet werden würde, das Tal wieder zu verlassen. Zumindest nicht in absehbarer Zeit. Würde ihn das nicht erneut zum Gefangenen machen? Ein fairer Hinweis, wie Anbar fand. Und doch spürte er tief in seinem Herzen, dass es genau das war, was er wollte - ja, was er brauchte! Also erhielt er die Erlaubnis, dort leben zu dürfen. Unbändige Vorfreude auf seine neue Heimat hatte ihn erfüllt und er hatte es kaum erwarten können, dorthin zu gelangen.
10. Januar 2016 - Zarifa: Krankenhaus - Beseitigung von Spuren
Genau wie Ahmad erwartet hatte, kam Jassim alarmiert ins Zimmer gestürzt. Jetzt galt es, zu schauspielern, wie er es noch nie zuvor getan hatte. Denn schließlich hing sein Leben davon ab!
„Was ist passiert?“, fragte er mit brüchiger Stimme.
„Was zum Teufel machst du Idiot hier?“, fragte Jassim wütend.
Ahmad hatte keine Probleme die Angst vor der Wut des Leibwächters zu spielen, denn den sonst so ruhigen, aber beeindruckend muskelbepackten Mann derart aufgebracht zu erleben, war schon beängstigend.
„Ich … weiß nicht“, stammelte er. „Es tut mir leid …“, „Mir war schlecht … und dann war alles schwarz …“, brachte Ahmad weiter hervor.
Doch zu seiner Erleichterung fragte Jassim gar nicht weiter, sondern eilte in den Flur zurück, wo er lautstark nach dem Arzt rief.
Anstelle von Doktor Scott kam seine Ehefrau mit einer weiteren Krankenschwester herbeigeeilt. Ruhig übersah Frau Scott, was passiert war und sagte gelassen: „Schon gut Jassim. Wir kümmern uns darum. Helfen Sie Ahmad aus dem Zimmer.“
Noch immer ärgerlich, aber sichtlich erleichtert über die kontrollierte Vorgehensweise der Frau des Arztes zog der Leibwächter Ahmad am Arm hoch, der so tat, als fiele es ihm schwer, sich vom Boden zu erheben.
In weinerlichem Tonfall, den er ebenfalls nur teilweise spielen musste, jammerte Ahmad: „Oh Allah! Was hab ich nur gemacht?“, und weiter: „Mir war schwindlig, ich muss wohl einen Moment ohnmächtig gewesen sein … geht es unserem Herrn gut?“
Er hatte kurzerhand den kompletten Ständer mit der Lösung umgerissen und auf den Boden geworfen. Sich selbst hatte er dann gerade noch rechtzeitig darüber werfen können, damit es so aussah, als hätte er das Chaos versehentlich verursacht. Nicht gerade genial, aber die einzige Lösung, die ihm kurzfristig eingefallen war, die erklären konnte, warum die Nadel aus Rayans Arm heraus war.
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