Ben nahm den Umschlag und legte ihn, ohne einen Blick darauf zu werfen, auf seine Knie. Was sollte das alles? Seine Anteile waren ihm egal. Er wollte sie nicht. Aber noch weniger wollte er, dass sie sein Onkel besaß.
„Der wichtigste Punkt: Es ist ein gutes und faires Angebot. Egal, ob du mit mir Schäfchen hüten willst oder mir lieber eine Kugel durch den Schädel jagen würdest. Dieses Angebot ist fair. Nicht, weil ich dein Onkel und ein guter Mensch bin, sondern deshalb, weil ich im Gegensatz zu dir tatsächlich etwas von Familienehre halte. Zweitens: Ich biete dir 6,5 Millionen Euro für deine Anteile. Das ist mehr als sie auf dem Markt wert sind. Und drittens: Solltest du das wollen, werde ich dir nur 4,5 Millionen Euro überweisen und mit dem übrigen Geld die Menschen entschädigen, an denen sich dein Vater schuldig gemacht hat. Das allerdings wird ohne ein öffentliches Eingeständnis passieren müssen. Ich werde, verdammt nochmal, nicht zulassen, dass unser guter Name besudelt wird.“
Der Wagen kam auf einem Rondell zu stehen, vor einer Gruppe klappernder Masten mit bunten Fahnen der gängigsten Länder. In der Mitte des Rondells stand auf einer Insel aus Gras ein dezent angeleuchteter metallener Berggipfel. In verschnörkelter Schrift war darauf „Camping Seenland“ zu lesen - eine ziemliche Übertreibung, denn der Starnberger See lag mehr als 10 Kilometer entfernt, die Alpen noch viel weiter. Die meisten Urlauber beschwerten sich trotzdem nicht, denn die Lage des Platzes war großartig: Sowohl München als auch die vielen Seen lagen immerhin in Reichweite. Und die Preise waren verglichen mit den anderen Plätzen in der Region moderat.
Ben fasste nach dem Türgriff, aber Onkel Vinzenz hielt ihn zurück, indem er seine Hand fest auf den Arm legte.
„Ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass du hier und jetzt voller Euphorie 'Ja' sagst. Aber schau es dir an! Denk darüber nach! Vielleicht ist es ja tatsächlich genau das, was du willst: Du nimmst mir damit unerhört viel Geld ab, du hilfst den Opfern deines Vaters, du kommst ein für alle Mal aus der Familie raus und du hast bei all dem noch genug Geld übrig, um einen eigenen Campingplatz aufzumachen oder was auch immer. Ehrlich gesagt ist es mir ziemlich egal, was du willst oder was du tust. Aber ich weiß was ich will: Ich will das Unternehmen zusammenhalten. Und glaub mir, das wird mir so oder so gelingen.“
„Ist das eine Drohung?“
„Nenn es, wie du willst. Ich biete uns beiden einen sauberen einfachen Weg, die Sache zu klären. Natürlich gibt es einen Plan B und der würde dir nicht gefallen.“
Ben stieg aus und hielt das Couvert dabei seltsamerweise fest in der Hand. Vor Zorn vergaß er, es seinem Onkel vor die Füße zu knallen und er vergaß einen kurzen Moment sogar den Schmerz in seinem Fuß. Aber immerhin drehte er sich um und sah den hochnäsigen Mann in seiner schwarzen Limousine noch einmal voller Verachtung an.
„Was auch immer du vorhast, lieber Onkel. Feuer den hässlichen Kerl mit der Hakennase. Menschen wie du brauchen bessere Leute, die auf sie aufpassen. Danke für die Fahrt.“
Dann knallte er die Wagentür zu.
„Du siehst schlecht aus, Kleiner.“
Dora saß auf einem Klappstuhl vor Bens silbernem Wohnwagen. Ihre ordentlich mit Fett gepolsterten Füße steckten in Flipflops, das ebenso gut gepolsterte rechte Bein ruhte auf dem linken. Sie passte perfekt in die Camping-Kulisse, fand Ben. Für einen Werbeprospekt wäre sie aber trotzdem nicht geeignet gewesen.
„Ich hatte einen beschissenen Tag, Dora. Und: verdammt, ja. Ich habe vergessen, mich um Duschraum 3 zu kümmern. Tut mir leid. Ich mach's gleich morgen früh, okay?“
Ben humpelte auf die weiß gestrichene Alu-Tür zu und bemühte sich, nicht allzu viele Schmerzen zu zeigen.
„Geht klar.“ Doras füllige Backen drückten ihre strähnigen, roten Haare zur Seite und formten auf diese Weise einen erstaunlich runden, rötlichen Kreis. Ben wusste, dass sie weit über 50 sein musste, aber das sah man ihr nicht an. Sie machte keinerlei Anstalten aufzustehen und zu gehen.
„Die Sache ist die: Ich mache mir ernsthaft Sorgen. Nicht nur um den Duschraum 3 und die anderen Jobs, die du in den letzten Tagen nicht gemacht hast. Ich mach mir Sorgen um dich, Kleiner. Du bist fast nie hier, wirst mitten in der Nacht von zweifelhaften Herren in dunklen Autos nach Hause gebracht und humpelst wie eine angeschossene Wildsau.“
Ben setzte sich auf die Stufe vor der Tür seines Wohnwagens. Das fehlte jetzt noch. Dora hatte einen ihrer Anfälle von Mütterlichkeit. Sie hatte ihm vor sechs Monaten diesen Job auf ihrem Campingplatz gegeben und ihn noch dazu in diesem silbernen 60er-Jahre-Wohnwagen einquartiert. Sicher nicht, weil er ein so fleißiger und guter Handwerker war, sondern nur, weil sie ihn mochte. Anders konnte es gar nicht sein, dachte Ben. Sie hatte seine Dankbarkeit verdient, und ihm war unwohl bei dem Gedanken daran, dass er die Dinge hier auf dem Platz in den letzten Tagen zugunsten von „Operation Rosswell“ hatte schleifen lassen.
„Es ist alles okay mit mir, Dora“, sagte er und lächelte sie an. „Und ab morgen bin ich auch wieder fit wie ein Turnschuh. Dann gehöre ich wieder ganz dir und 'Camping Seenland'. Versprochen!“
Mit einem leisen Ächzen erhob sie sich und sah ihn dabei zweifelnd an. Dora war keine Frau, der man so leicht etwas vormachen konnte. Dazu hatte sie zu viel erlebt. Sie hatte diesen Campingplatz ganz alleine aufgebaut und ihn zu halten, war ein niemals endender Kampf. Sie runzelte die Stirn.
„Gute Nacht, Kleiner. Morgen sehen wir weiter. Dr. Gabel hier im Ort ist ein feiner Kerl. Er sollte sich deinen Fuß mal anschauen. Wirklich.“
Mit einem schnellen Winken verabschiedete sie sich und schlappte zwei dicklichen Männern hinterher, die bewaffnet mit Kulturbeuteln und Handtuch auf dem Weg zu einem der funktionierenden Duschräume waren. Vermutlich hatten sie keine Ahnung, dass es die Besitzerin des Platzes war, die hinter ihnen zufällig den gleichen Weg hatte.
Ben lag keine zwei Minuten später in seinem Bett. Er war todmüde. Seine Gedanken kreisten um die seltsamen Ereignisse dieses Tages. Die Liix-Aktion gegen Zöllner, die Jagd durch München, der schwarz-weiße Kerl und schließlich sein Onkel. Ben war nicht mehr in der Lage, klare Gedanken zu fassen und Entscheidungen zu treffen. Nicht mehr heute, nicht jetzt. Aber dann, während der Schmerz in seinem Fuß wieder langsam abflaute, überkam ihn ein seltsames Gefühl. Das Gefühl, dass bald etwas Bedeutendes mit ihm geschehen würde.
Weit weg von allem fraß sich etwas in das Nichts wie Maden in ein Stück Fleisch. Es geschah langsam. Aber es war nicht aufzuhalten. Das, was den alten Mann so lange in einen schwarzen, wohligen Mantel gehüllt hatte, war am Schwinden. Da, wo nichts war, entstand nun etwas. Es bedrückte ihn, drängte sich in sein Bewusstsein. Bewusstsein? Ja, auch er begann wieder zu existieren. Er war da, er war jemand und das Etwas, das sich anschickte, das Nichts zu besiegen, schrie nach ihm. Es forderte ihn. Er, der nicht einmal wusste, wer er war, sträubte sich dagegen zu tun, was geschehen musste. Er drängte vergeblich zurück in das Nichts, lechzte nach dem kleinen bisschen Dunkelheit und Vergessen, das noch übrig geblieben war - obwohl er wusste, dass er das Erwachen nicht mehr aufhalten konnte.
Und dann wurde ihm klar, dass es nicht mehr nur um ihn ging. Da war noch jemand und da war dieses ... Ding, das er bereits in Gang gesetzt hatte. Nur der Gedanke hatte gereicht, um die Wärme in seinem Inneren zu entfachen. Seine Macht breitete sich bereits aus und tat das, wofür sie geschaffen war. Es geschah bereits und er wusste, dass er es einst gewollt hatte, dass er daran schuld war. Aber er erinnerte sich nicht. Er sehnte sich nur zurück nach der Dunkelheit und nach dem Vergessen.
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